Der Erbe der Nacht
nach und nach vergaß ich den eigentlichen Grund meines Reichtums und meiner ewigen Jugend.«
»Bis der Fremde wieder auftauchte«, vermutete ich.
Großvater nickte. »Ja. Es war vor genau zwanzig Jahren. Er
… er war keinen Tag älter geworden, und auch das Kind, das er bei sich hatte, war noch immer ein schreiender Säugling. Es war, als hätten beide die achtzig Jahre einfach übersprungen.«
Er schnippte mit den Fingern. »Er kam, um mich an mein Versprechen zu erinnern. Und er tat noch mehr. Er … erzählte mir, wer du wirklich bist.«
»Und wer bin ich?« fragte ich gepreßt.
Großvater sah mich sehr ernst an. »Der, als den dich H. P.
gestern nacht angesprochen hat«, antwortete er.
»Dein wirklicher Name lautet Robert Craven II.. der Sohn Robert Cravens, des Hexers.«
Der Hexer. Robert Craven, der Mann, der die Mächte der Finsternis gegen sich aufgebracht hatte und schließlich von ihnen getötet worden war … Robert Craven.
Es war wieder Abend. Der Himmel über dem gläsernen Dach meines Studios begann sich bereits mit dem ersten kränklichen Grau der hereinbrechenden Dämmerung zu überziehen, aber ich registrierte es kaum; so wenig, wie ich den Rest des Tages bewußt wahrgenommen hatte. Großvater und ich hatten noch lange miteinander geredet, so lange, bis Mary schließlich zaghaft gegen die Tür klopfte und uns zum Lunch rief, aber nichts von alledem, worüber wir gesprochen hatten, hatte mich so schockiert wie dieser Name.
Natürlich wußte ich, wer Robert Craven war. Ich hatte es auch schon vor meinem Gespräch mit H. P. gewußt, nur war ich in der vergangenen Nacht viel zu aufgeregt gewesen, um mich zu erinnern. Über kurz oder lang kam niemand, der sich wie ich für okkulte Dinge und gewisse absonderliche Vorgänge interessierte, an diesem Namen vorbei. Er hatte vor etwa hundert Jahren gelebt, und es hieß, er hätte sich mit uralten, finsteren Mächten eingelassen, die ihn am Ende auch umgebracht haben sollen. Diesen Teil der Geschichte hatte ich allerdings für eine reine Legende gehalten; sicher war nur, daß es einen Mann namens Robert Craven gegeben hatte und daß er unter höchst sonderbaren Umständen ums Leben gekommen war aber Dämonen? Zweihundert Millionen Jahre alte Götter, die von den Sternen gekommen waren und auf ihr Wiederer-wachen warteten? Lächerlich. Und nun eröffnete mir mein Großvater mit einemmal, dieser Mann sei mein Vater gewesen und auch das hatte er bisher vor mir verheimlicht er sei vor ganz genau einhundert Jahren in diesem Haus umgekommen.
Okay rein verstandesmäßig versuchte ich nach wie vor hartnäckig, mich davon zu überzeugen, daß das alles ausgemachter Schwachsinn war und mein Großvater allmählich wirklich senil zu werden begann; aber da war noch eine andere, nicht weniger beharrliche Stimme in mir, die stur behauptete, daß sich alles wirklich ganz genau so abgespielt hatte, wie er sagte.
Aber das war unmöglich! Die Geschichte mit den zusätzlichen achtundzwanzig Lebensjahren, die mein Großvater für sich beanspruchte, hätte ich ihm ja schlimmstenfalls noch geglaubt, aber das, was er über mich erzählt hatte? Niemand kann achtzig Jahre einfach überspringen, mit einem Finger-schnippen, und ich war zwanzig Jahre alt, keine hundert!
Es wurde vollends dunkel. Der Himmel über mir überzog sich mit samtener Schwärze, und vor dem Fenster erschimmer-te die Lichterglocke der City, aber ich lag noch immer reglos auf dem Bett und zermarterte mir das Hirn. Es mußte einfach eine rationale Erklärung für all das geben, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebt hatte!
Entschlossen stand ich auf. Eines der ersten Dinge, die mir mein Großvater beigebracht hatte, war, daß man jedes Problem klären konnte, wenn man es nur mit Logik anging. Es gab keine unlösbaren Rätsel, nur Antworten, die noch nicht gefunden waren. Ich würde hinuntergehen und mir dieses sonderbare Buch noch einmal ansehen, und wenn es sein mußte, auch die schreckliche Uhr.
Anders als gestern abend war das Haus jetzt nicht still, sondern noch von Leben erfüllt. Unten in der Küche hörte ich Mary hantieren, und aus dem Speisezimmer, wo eines der Mädchen den Tisch abräumte, drang Geschirrgeklapper. Und anders als heute morgen sorgte mein Erscheinen diesmal auch nicht für allgemeines Kopfschütteln schließlich war es gerade acht, also die Zeit, zu der ich normalerweise erst allmählich munter zu werden begann. Selbst Merlin fand langsam wieder in seinen
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