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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nicht länger als vierundzwanzig Stunden festhalten, ohne mich offiziell eines Verbrechens anzuklagen.«
    »Kann ich nicht?« fragte Card lauernd.
    »Nein«, behauptete ich.
    Aber Card konnte. Und er tat.
    Die Zelle war winzig: vier Schritte lang, zweieinhalb breit; etwas weniger als einen, wenn ich das Bett herunterklappte, das an der Wand links von der Tür angeschraubt war. Es gab einen Stuhl, ein offenes Klosett ohne Deckel und ein Wasch-becken mit einem einzelnen Hahn, der beim Auf- und Zudrehen erbärmlich quietschte. Das Fenster befand sich hoch unter der Decke und bestand aus vier aufrecht nebeneinander eingesetzten Glasbausteinen. Decke und Fußboden waren aus nacktem Beton, und auf den Wänden, die irgendwann einmal weiß gekalkt gewesen waren, prangten die Schmierereien all jener, die dieses Luxusapartment vor mir bewohnt hatten: die obligatorischen Strichlisten manche von ihnen waren erschreckend lang , aber auch mehr oder weniger gelungene Zeichnungen, ein mehrzeiliger Hilferuf von erstaunlicher dichterischer Qualität und ein paar unanständige Bilder. Ich fragte mich, womit die Gefangenen all diese Kunstwerke angefertigt haben mochten mir hatte man alles abgenommen, was ich bei mir getragen hatte, selbst meinen Gürtel und die Schuhsenkel hatte ich den Beamten aushändigen müssen.
    Das war jetzt länger als einen Tag her. Ich war direkt aus Cards Büro hier heruntergebracht worden, in eine der Arrest-zellen, die sich heute wie vor hundert Jahren in den Kellergeschossen des Yard befinden, und seither hatte ich keinen Menschen mehr zu Gesicht bekommen. Das einzige Zeichen von Leben in dieser trostlosen Gruft war eine kräftige Männerhand in einem schwarzen Uniformärmel, die mir in regelmäßigen Abständen Essen und Trinken durch die kleine Klappe in der Tür hereinreichte.
    Die ersten vier oder fünf Stunden ich war auf Schätzungen angewiesen, denn meine Uhr war wie all die anderen Habselig-keiten in der Asservatenkammer des Yard verschwunden
    hatte ich geduldig ertragen.
    Dann war ich ärgerlich geworden, und schließlich hatte ich sogar zu toben angefangen: Ich hatte mit den Fäusten gegen die Tür getrommelt und mir die Seele aus dem Leib geschrieen, aber das einzige Ergebnis hatte darin bestanden, daß meine nächste Mahlzeit ausgefallen war. Und irgendwann danach hatte ich resigniert. Ich begriff, daß ich nicht vor Ablauf der nächsten zweiundsiebzig Stunden hier herauskommen würde, ganz egal, was geschah. Card und die Großen Alten hatten gewonnen.
    Eigentlich hätte mich der Gedanke, daß mir nichts Schlimmeres bevorstand als die Unbequemlichkeit zweier weiterer Tage in dieser Zelle, beruhigen müssen. Ich saß zwar im Gefängnis, aber strenggenommen war es eher eine Art Schutzhaft, zu der Card mir verhelfen hatte. Solange ich hier hockte und weder meinem Haus noch der Uhr nahe kam, gab es für Cthulhus Helfershelfer keinen Grund, mir irgendein Leid anzutun.
    Gleichzeitig aber wurde ich den nagenden Zweifel nicht los, ob H. P. nicht doch recht haben könnte.
    Was, wenn die Großen Alten wirklich erwachten, sobald die letzte Chance dahin war, sie aufzuhalten? Sicher, mit derselben Logik, mit der ich mir einzureden versuchte, daß ich in dieser Zelle im Moment am besten aufgehoben war, ließ sich auch folgern, daß das gar nicht möglich war schließlich wäre ich nicht hier, wenn sie tatsächlich erwacht wären. Und ich konnte ja wohl auch schwerlich irgend etwas am Verlauf der Geschichte ändern, solange ich gar nichts tat, zumal, wenn es sich bei dieser Geschichte um die Vergangenheit handelte.
    Was aber, flüsterte eine leise, aber sehr hartnäckige Stimme hinter meiner Stirn, wenn es nicht so einfach war? Wenn die Gesetze der Zeit sich einen Dreck um menschliche Logik kümmerten? Was würde geschehen, sobald diese Nacht vorüber war? Würde die Welt aufhören zu existieren? Würde die gesamte menschliche Rasse mit einem Schlag vom Antlitz dieses Planeten verschwinden, oder würde ich mich in einem vollkommen fremden London wiederfinden, einem von tentakelschwingenden Ungeheuern und schleimigen Schoggothen beherrschten London, in dem die Menschen nur mehr Sklaven waren? Es war ein Gedanke, der einen schlichtweg in den Wahnsinn treiben konnte, aber ich war mir bei allem Kopfzerbrechen auch darüber im klaren, daß meine Überlegungen letztendlich müßig blieben selbst, wenn ich es gewollt hätte, hätte ich kaum noch viel am Lauf der Dinge ändern können, denn ich saß in dieser

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