Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
Schätzung spornte mich zu noch größerer Schnelligkeit an. Dicht hinter H. P. stürmte ich durch die große, ganz in Marmor gehaltene Eingangshalle des Yard, warf mich durch die Drehtür und stolperte die breite Freitreppe hinunter. Die Wagen unten auf der Straße krochen zwar immer noch dahin wie in einem Film, der zu langsam abgespielt wurde, aber sie waren ganz eindeutig nicht mehr erstarrt. Es war beklemmend nicht nur Scotland Yard, sondern die ganze Stadt schien unter H. P.s unheimlichem Einfluß zu stehen!
    Trotzdem verbiß ich mir alle Fragen, denn es war offensichtlich, daß H. P. jedes bißchen Kraft, das er besaß, brauchte, um dieses Wunder zu vollbringen.
    Als wir das Ende der Treppe erreichten, lief die Zeit schon wieder fast normal ab. Ich wollte auf eines der bereitstehenden Taxis zueilen, aber H. P. ergriff mich wortlos beim Arm und deutete nach links.
    Knapp zehn Yards neben der Treppe stand die nachtschwar-ze, zweispännige Kutsche, und auf dem Bock thronte Rowlf.
    Ich folgte H. P.. kletterte dicht hinter ihm ins Innere des antiquierten Gefährts, warf die Tür hinter mir zu und wurde recht unsanft in die Polster geschleudert, als Rowlf die Pferde antraben ließ. H. P. brach mit einem erschöpften Seufzer neben mir zusammen und rang keuchend und wimmernd vor Erschöpfung nach Luft. Vorsichtig half ich ihm, sich auf der lederbezogenen Bank auszustrecken, wartete einige weitere Sekunden, bis er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, und fragte dann: »Kannst du sprechen?«
    H. P. nickte mühsam. »Es … geht«, sagte er schwach. »Gib mir noch … noch ein paar Sekunden. Ich muß … mich erholen.«
    Widerstrebend nickte ich, drehte mich auf dem Sitz herum und blickte aus dem Fenster. Die Kutsche quälte sich durch den noch immer dichten Verkehr des nächtlichen London. Die Straßen waren voller Autos, und mehr als einmal hörte ich ein zorniges Hupen hinter uns. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich die ersten Polizeisirenen hörte …
    »Also?« fragte ich, als ich fand, daß H. P. nun ausreichend Zeit gehabt hatte, sich zu erholen.
    Er sah mich an. Seine Augen waren noch immer trübe vor Erschöpfung. »Ich mußte es tun, Robert«, sagte er leise. »Es war die letzte Möglichkeit. Die Frist läuft ab. Uns bleibt nicht einmal mehr als eine Stunde.«
    Einen Moment lang blickte ich ihn verwirrt an, dann fuhr ich herum, starrte abermals aus dem Fenster und zuckte wie unter einem Hieb zusammen.
    Gar kein Zweifel der Weg, den wir fuhren, war der zum Ashton Place!
    »Du … du glaubst doch nicht etwa, daß «
    »Du mußt es tun, Robert«, unterbrach mich H. P. »Bitte, versteh doch! Es ist nicht nur dein Leben, das auf dem Spiel steht!«
    »Ihr seid ja alle verrückt!« antwortete ich. »Ich werde den Teufel tun und in dieses Haus gehen, H. P.! Begreifst du immer noch nicht, daß ich mit alledem nichts mehr zu tun haben will?
    Bring mich sofort zurück! In meiner Zelle ist es sicherer als bei euch Wahnsinnigen!«
    H. P. sah mich sehr lange und sehr traurig an. Er wirkte weder enttäuscht noch zornig. Dann hob er die Hand und deutete an mir vorbei. »Sieh noch einmal hinaus«, sagte er.
    »Und tu es diesmal gründlich.«
    Ich gehorchte. Aber ich sah auch dieses Mal nichts anderes als vorhin eine nächtliche Straße in London, mit all ihren Autos, Menschen, Lichtreklamen und Schaufenstern. »Was soll dort sein?« fragte ich.
    »Sieh genau hin«, antwortete H. P. »Sieh ganz genau hin!«
    Und dann sah ich es. Es waren nur Kleinigkeiten, winzige Details, die sich meiner Betrachtung noch dazu immer wieder auf unheimliche Weise zu entziehen schienen, aber jetzt, da ich einmal darauf aufmerksam geworden war, waren sie auch nicht mehr zu übersehen: Schatten, die dunkler waren als sonst.
    Menschen, die mir sonderbar mißgestaltet erschienen, ohne daß ich genau sagen konnte, warum. Hier eine Linie, die nicht mehr so war, wie ich sie in Erinnerung hatte. Eine Lichtreklame, deren Farbe seltsam krank wirkte. Ein hellerleuchtetes Schaufenster, hinter dem sich etwas verbarg, zu entsetzlich, als daß ich es länger als einen Sekundenbruchteil anzusehen vermochte.
    Winkel und Geraden, die nicht der euklidischen Geometrie zu entsprechen schienen …

    »Mein Gott«, flüsterte ich. »Was ist das?«
    »Es beginnt«, antwortete H. P. »Die Zeit ist fast abgelaufen.
    Die Wahrheiten beginnen sich zu verschieben.«
    »Die was?« fragte ich.
    »Bisher gab es zwei Wirklichkeiten«, antwortete H. P. »Zwei

Weitere Kostenlose Bücher