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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Gefängniszelle fest. Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war das Tageslicht draußen vor dem Glasbausteinfenster erloschen. Ich setzte mich auf, fuhr mir verwirrt mit der Hand über die Augen und gähnte. Ich war nicht von selbst aufgewacht, das spürte ich.
    Irgend etwas hatte mich geweckt, ein Geräusch, eine …
    Berührung? Aber ich war doch allein in der Zelle.
    Verstört sah ich mich um. Nein, in diesem Loch gab es wahrlich kein Versteck für irgend etwas, das nennenswert größer als eine Küchenschabe gewesen wäre. Ich wollte mich schon wieder zurücksinken lassen, um weiterzuschlafen, als ich den Schatten sah.
    Ruckartig richtete ich mich kerzengerade auf.
    Es war der Schatten eines Menschen aber nur sein Schatten!
    Fremd und finster und überaus bedrohlich prangte er an der Wand neben meiner Pritsche, der Schatten einer sehr schmalen, kleinen Gestalt, die nachdenklich auf mich herabzublicken schien.
    »Was …«, keuchte ich, sprach aber nicht weiter, denn in diesem Moment geschah etwas, das mich noch mehr erschreckte als der Schatten zuvor.
    Aus dem Nichts heraus erschien eine menschliche Gestalt in meiner Zelle. Für einen Sekundenbruchteil stand sie reglos da wie eine Statue, dann taumelte sie, stieß einen kleinen, halber-stickten Schrei aus und purzelte kopfüber nach vorne.
    Ich griff instinktiv zu, noch ehe ich erkannte, wer so jählings in meiner Zelle aufgetaucht war. Und dann, als ich das Gesicht sah, verwandelte sich mein Entsetzen in ungläubiges Staunen.
    »H. P.!« rief ich. »Wie zum Teufel … woher «

    H. P. machte eine mühsame Handbewegung, versuchte sich aus meinem Griff zu befreien und wäre prompt wieder gestürzt, wenn ich ihn nicht abermals aufgefangen hätte. Ich spürte, daß er vor Schwäche zitterte. Sein Gesicht war schneeweiß. Kalter Schweiß perlte von seiner Stirn.
    »Jetzt … nicht«, flüsterte er. »Frag jetzt nichts. Wir müssen weg schnell!«
    »Weg?« Ich verstand kein Wort mehr, aber H. P. hielt sich nicht mit Erklärungen auf, sondern löste sich endgültig aus meinem Griff, wankte zur Tür und öffnete sie.
    Meine Augen wurden groß vor Staunen. Für einen Moment vergaß ich sogar, auf welch unheimliche Art und Weise er in meiner Zelle aufgetaucht war.
    »Die Tür!« murmelte ich. »Aber wieso … ist sie offen?«
    »Sie wird offen sein, morgen«, antwortete H. P. geheimnis-voll. »Komm, Robert. Schnell. Solange meine Kräfte noch reichen, um uns zu schützen!«
    Ich verstand von dieser Antwort rein gar nichts, aber ich gehorchte ganz automatisch. Hastig sprang ich auf, schlüpfte in meine Schuhe und trat hinter ihm auf den Gang hinaus.
    Was ich sah, das ließ mir die Haare zu Berge stehen und zwar nicht im übertragenen, sondern im wortwörtlichen Sinn: Ich spürte, wie sich meine Haarwurzeln schlagartig aufstellten, als wären sie plötzlich elektrisch geladen.
    Der Gang war nicht leer. Wenige Meter vor uns standen zwei Männer in den schwarzen Uniformen der Londoner Polizei, reglos wie große, lebensechte Puppen: Sie waren mitten in der Bewegung erstarrt.
    Der Mund des einen war halboffen, als hätte er eben dazu angesetzt, etwas zu sagen, und der andere hielt den rechten Fuß wenige Inches über dem Boden, halb im Schritt. Es war unheimlich. Unheimlich und beängstigend.
    Und dann sah ich, daß sie sich doch bewegten. Der Fuß senkte sich ganz, ganz langsam, Millimeter für Millimeter, und der Mund des anderen wurde breiter, verzog sich ganz allmählich zu einem Lachen.
    »Schnell!« drängte H. P. »Wir müssen hier heraus, ehe sich die Zeitebenen völlig ausgeglichen haben.«
    »Aha«, sagte ich. Aber immerhin war ich geistesgegenwärtig genug, mich vom Anblick der beiden erstarrten Polizisten loszureißen und H. P. zu folgen, der taumelnd, aber sehr schnell, zur Treppe ging.
    Wir begegneten weiteren, auf die gleiche unheimliche Weise erstarrten Menschen, auf dem Weg nach oben. Wie Schaufen-sterpuppen standen sie herum, mitten in der Bewegung eingefroren, zum Teil in geradezu absurden Haltungen. Es war wie ein Gang durch ein bizarres Wachsfigurenkabinett. Und uns blieb wirklich nicht viel Zeit, wie ich sehr bald begriff
    zunächst war es kaum zu merken, aber je mehr wir uns dem Ausgang näherten, desto deutlicher wurde es: Die Bewegungen der Männer und Frauen um uns beschleunigten sich. Nicht viel, aber doch so, daß es sich absehen ließ, wann sie wieder annähernd ihre normale Geschwindigkeit erreicht haben würden. Das Ergebnis meiner

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