Der Erbe der Nacht
und hier auf Sie gewartet.«
Derselbe Tag, Stunden später, die mir wie Ewigkeiten vorgekommen waren. Ich saß wieder in Cards Büro, aber es war nicht mehr derselbe Raum wie beim ersten Mal. Das Büro war sehr viel größer, hatte ein Vorzimmer mit einer Sekretärin, einem Fernschreiber und allem, was dazugehörte, auf Cards Schreibtisch stand ein modernes Computerterminal, und auf der Milchglasscheibe der Tür prangte der Schriftzug: Captain Jeremy Card. Er war befördert worden. Und ich hatte das dumme Gefühl, sogar zu wissen, warum.
Nicht, daß mich das im Moment besonders interessiert hätte.
Ich fühlte mich erschöpft, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. Meine Augen brannten vor Müdigkeit, und seit ungefähr zehn Minuten hatte ich alle Mühe, überhaupt noch aufrecht auf dem unbequemen Arme-Sünder-Stuhl vor seinem Schreibtisch zu sitzen. Ich hatte Scotland Yard kennengelernt, aber von einer gänzlich anderen Seite, als mir lieb gewesen wäre. Ich hatte die gesamte entwürdigende Prozedur mitge-macht, die sich hinter dem harmlosen Ausdruck Feststellung der Personalien verbirgt: Fingerabdrücke, Fotografien, das endlose Beantworten stets gleichlautender Fragen …
Und das war erst der Anfang gewesen. Danach hatte mich Card in sein Büro geholt, und wenn ich geglaubt hatte, daß er bei unserer ersten Unterredung vor einer Woche unfreundlich gewesen war, hatte ich mich getäuscht. Heute war Captain Jeremy Card gewissermaßen zu Höchstform aufgelaufen.
»Also, noch einmal«, sagte er zum wahrscheinlich fünfzigstenmal an diesem Tag. »Sie bleiben dabei, mit Mister Martin nur ein einziges Mal gesprochen zu haben, an dem Tag, an dem er «
»An dem ich ihm die Uhr verkauft habe«, unterbrach ich ihn.
»Wie oft wollen Sie mich das noch fragen, Card?«
»Bis Sie mir die Wahrheit sagen«, antwortete Card trocken.
»Er hat die Uhr gekauft und bezahlt und auch abholen lassen?«
»Noch am selben Tag«, sagte ich erschöpft.
»Aber wieso steht sie dann wieder in Ihrem Arbeitszimmer?
War Martin nicht zufrieden damit?«
»Ich weiß es nicht!« sagte ich auch zum wahrscheinlich fünfzigstenmal. »Sie war einfach wieder da, ob Sie es nun glauben oder nicht!«
Natürlich glaubte Card mir nicht. Er machte sich nicht einmal mehr die Mühe, es laut auszusprechen und wozu auch? Je öfter ich es wiederholte, desto unglaubwürdiger kam es mir ja selbst vor.
Er seufzte. »Gut, Mister McFaflathe-Throllinghwort-Simpson«, sagte er, »oder wie immer Sie heißen mögen.
Fangen wir noch einmal von vorne an.« Er lächelte zuckersüß, zog eine Schublade seines nagelneuen Schreibtisches auf und holte eine dünne Plastikmappe hervor. Ich fuhr erschrocken zusammen, als er sie vor mir auf die Tischplatte knallte.
»Ich habe weitere Nachforschungen angestellt seit unserer letzten Unterhaltung«, begann er. »Nachforschungen, die Sie betreffen, aber auch Ihren Herrn Großvater.«
Ich antwortete nicht. Es wäre auch sinnlos gewesen.
Card verkehrte alles, was ich vorbrachte, ins Gegenteil.
Irgendwie kam ich mir vor wie ein Mann, der in einen Sumpf geraten ist und immer tiefer und tiefer sinkt, je mehr er strampelt.
»Mir sind da ein paar Unregelmäßigkeiten aufgefallen«, fuhr er fort. »Es ist mir zum Beispiel nicht gelungen, so etwas wie eine Geburtsurkunde zu finden.
Jedenfalls keine, die auf Ihren Namen ausgestellt wäre.«
»Ich bin nicht in London geboren«, antwortete ich.
»Sondern irgendwo in Europa.«
Card grinste und tätschelte sein Computerterminal, als wäre es ein kleiner Hund. »So etwas ist äußerst praktisch«, sagte er lächelnd. »Man kann damit in Sekundenschnelle Informationen aus allen Teilen der Welt bekommen.«
Ich starrte ihn böse an. »Ach? Und ich dachte, Sie kochen Kaffee damit.«
Card ignorierte meinen Einwurf.
»Wer sind Sie wirklich?« fragte er. »Ich meine, Sie haben mir lang und breit erklärt, Sie seien der Alleinerbe des Simpson-Vermögens und hätten deshalb gar keinen Grund gehabt, Ihren Großvater umzubringen. Aber so, wie die Dinge liegen «
»Verdammt, warum fragen Sie nicht meinen Rechtsanwalt?«
unterbrach ich ihn.
»Dr. Gray?« Card grinste. »Das werde ich tun. Er sitzt sowieso in einer unserer Zellen.«
»Gray? Sie haben Gray verhaftet?«
Card nickte ungerührt. »Irreführung der Behörden«, sagte er.
»So etwas mögen wir hier nicht. Aber wir wollten über Sie sprechen.«
»Nein, das wollten wir nicht«, fauchte ich. »Zum Teufel, Sie glauben mir
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