Der Erbe Dschainas
der Glaube an Gott und die Notwendigkeit der Anbetung hatten nie in Frage gestanden. Mit Unbehagen stellte sie fest, dass sie seit ihrer Flucht nicht ein einziges Mal gebetet oder an Gott gedacht hatte, und dieses Unbehagen steigerte sich, als sie sich bewusst wurde, dass sie noch nie glücklicher gewesen war. Sie war ganz in Gedanken versunken, als Fethan sie am Arm packte.
»Glaube, an was du möchtest, Mädchen«, sagte der alte Mann, »aber lass nicht dein Leben davon beherrschen! Denkst du, falls es einen Gott gäbe, der das Universum erschaffen hat, dass es dann der kleinliche, rachsüchtige Gott eurer Theokratie wäre? Das sind nur Menschen wie du und ich. Das Leben ist kostbar und kurz, Mädchen. Genieße es!«
Eldene blickte sich zu den unheimlichen Pflanzen um und den Mollusken, die sich an die Felsen klammerten. Sie dachte an die Heroyne und die Schnatterente, die sie in der Nacht gesehen hatte. Stockend deutete sie auf eine Halbkugelschale mit schönen grünen, gelben, und weißen geometrischen Formen.
»Das Leben«, sagte sie, »ist so komplex – da muss es doch jemand gemacht haben?«
»Ah, die Lehre von der Schöpfung!«, sagte Fethan. »Ich möchte dir mal von der Evolution und einem blinden Uhrmacher erzählen …«
Eldene hörte ihm zu und wurde allmählich böse. Es schien, dass alles, was er sagte, empirisch zutreffend war, und gleichzeitig, dass alles, was man ihr eingeprügelt hatte, ebenfalls stimmte – falls man gläubig war. Sie wurde böse, weil sie tief in sich gläubig war und allmählich erkannte, wie sehr sie das einschränkte; und sie beneidete Fethan um die Freiheit des Denkens.
Für einen Augenblick fiel die Schwerkraft auf der Krankenstation aus, ehe sie sich wieder einschaltete und dann kletterte, bis sie nach Cormacs Empfinden etwa anderthalb g erreichte, um wieder auf ungefähr ein halbes g zurückzufallen.
»Was zum Teufel …?«, fragte er in die hohle Luft. »Tomalon?«
Er blickte sich zu den anderen um und stellte fest, dass Aiden und Cento zusammengebrochen waren und keinerlei Anstalten trafen, sich wieder aufzurappeln. Er ging zu Aiden hinüber, hockte sich neben ihn und sah, dass etwas das Synthofleisch auf der Stirn des Golems verkohlt hatte; es hatte Blasen geworfen, war abgebröckelt und hatte durch Hitze verfärbtes Metall freigelegt. Gant hockte sich neben ihn und half ihm dabei, Cento auf den Rücken zu drehen – wodurch sie bei ihm die gleiche Feststellung machten.
Gant sah Cormac verwirrt an. »Sie sind einfach ausgegangen. Ich habe gespürt, wie sie ausgingen.«
»Tomalon!«, brüllte Cormac.
Zur Antwort erschien Tomalons Hologramm in der Mitte der Kabine, durch einen Operationstisch dort in zwei Hälften zerteilt, und schwache Bilder komplexer Anlagen schimmerten ringsherum in der Luft. »Das ist eine Aufzeichnung, also sprechen Sie mich nicht an«, sagte die Stimme des Kommandanten.
Cormac schluckte die Frage herunter, die er schon hatte stellen wollen.
Der Kommandant fuhr fort: »Skellor übernimmt die Occam Razor mit Hilfe von Dschaina-Technik. Es ist ein altes Schiff und für den Fall eines Übernahmeversuchs der KI mit einem System für vollständige KI-Löschung ausgestattet, das ich auch gestartet habe. Die Löschung war nicht ganz erfolgreich, und Skellor kontrolliert nun zweiundzwanzig Schiffsgolems, wie auch das Lebenserhaltungssystem und die Subraumtriebwerke.«
Tomalon öffnete den Mund, als wollte er losschreien, aber kein Ton war zu hören. Seine Augen verwandelten sich plötzlich in geschwärzte Gruben, und ein komplexes Netz aus schwarzen Linien zog sich vom Kopf bis zu den Füßen über den holografischen Körper. »Sie müssen fliehen! Sie müssen fliehen!«, wurde sein knirschendes Flüstern vernehmbar. Dann: »Occam … Occam … Occam …«
Der Kommandant flackerte und ging aus.
»Was ist los? Was geht da vor?«, wollte der Outlinker-Junge wissen, als Mika ihm auf die Beine half.
Cormac starrte Gant an und deutete dann mit dem Kopf auf die hingestürzten Golems. »Ihre Persönlichkeiten waren in diese Schiffsgolems eingespeist, weshalb das Löschprogramm in ihnen wohl hardwaremäßig verankert war. Sie sind tot.« Dabei fragte er sich, ob es korrekt war, diese beiden Aufzeichnungen von Aiden und Cento als vormals lebendig zu betrachten, entschied aber, dass er das Gant gegenüber lieber nicht zur Sprache brachte. Er stand wieder auf und fuhr fort: »Na ja, Sie haben den Mann gehört. Sehen wir zu, dass wir wie der
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