Der Erbe Dschainas
hüfthoch stand und mit einer sirupartigen Flüssigkeit bespritzt war, bei der es sich nach Fethans Angaben um Äserblut handelte. Ringsherum verstreut lagen auch Haufen wiedergekäuter weißer Knochenflocken und zerkauter Haut sowie stinkende Exkrementenwürmer – wobei unklar blieb, ob diese Letzteren von dem Äser stammten oder von dem Ding, das ihn gefressen hatte. Am auffälligsten war der Schädel des Äsers, der präzise im Mittelpunkt der Lichtung lag, als hätte ihn jemand sorgsam dort platziert. Dieser Gegenstand war so groß wie der Rumpf eines Mannes und wies einen gewaltigen Unterkiefer mit drei Reihen flacher Mahlzähne auf, die mit einer flachen Knochenfläche als Gegenstück funktionierten. Vier Augenhöhlen waren auf beiden Seiten des langen Schädels zu sehen – und eine barg nach wie vor ein eisenfarbiges Auge mit einer schwarzen Doppelpupille.
Eldene entdeckte Bewegungen zwischen dem Sirupblut und dem dunklen Fleisch, das noch an den weißen Gebeinen hing, und bei näherem Hinsehen entdeckte sie, dass dieses Phänomen auf kleine schwarze Schalentiere zurückging, die Sprawnen ähnlich sahen – nur ohne Flügel – und hier erschienen waren, um zu fressen. Sie trat zurück und sah, dass die gesamte Lichtung von diesen Kreaturen wimmelte. Wortlos lief sie Fethan nach, der inzwischen einem Pfad von der Lichtung zu den Bergen folgte.
Zur Mitte des Vormittags hatten sie wieder höheren Grund erreicht und kamen jetzt leichter voran. Als sie dem Gebirge näher kamen, veränderten sich Landschaft und Vegetation drastisch. Molchschwänze wuchsen in dicken Knäueln rings um eine Art riesiger Blüte oder Frucht, welche an einen Klumpen roher Leber erinnerte; stummeliges Flötengras wuchs in Mulden, aber ansonsten bedeckten Blasenmoose in Tönungen von Blau bis Grün den Boden, und nur hier und dort ragte ein roter Hülsendorn einen Meter hoch auf. Pflanzen gleich Riesendisteln traten verstärkt auf, sauber aufgereiht wie marschierende Heere, gekleidet in fingerlange Dornen, mit Köpfen von tiefstem Rot über Körpern von blassem Grün; Felsvorsprünge wurden hier zu einer verbreiteten Erscheinung, und eine größere Vielfalt an Mollusken klammerte sich daran. Und der Grund stieg stetig weiter an.
»So was habe ich noch nie gesehen, nichts von all dem, nicht mal in Büchern«, bemerkte Eldene; sie war stehen geblieben und studierte ein paar Mollusken, die an einem großen flachen Stein klebten. Die Schalen waren scheinbar mit einer Emaille aus euklidischen Mustern in Schwarz und Gelb überzogen, und es schien, als hätte hier jemand den Inhalt eines Schmuckkästchens verschüttet.
»Wie viele Bücher hast du denn tatsächlich zu Gesicht bekommen?«, wollte Fethan von ihr wissen. Eldene zählte sie in Gedanken zusammen, aber ehe sie antworten konnte, fuhr Fethan fort: »Falls du sie überhaupt zählen kannst, waren es nicht genug. Die Theokratie erlaubt sowieso nur wenige Titel, und die paar, die du gesehen hast, waren sicher Kopien der spärlichen Bände, die die ersten Siedler mitgebracht hatten – oder auch die subversiven Versionen davon, die die Polis eingeschmuggelt hat. Mich erstaunt, dass du überhaupt Bücher kennst.«
»Es gab welche im Waisenhaus«, sagte Eldene.
»Dann sind sie wahrscheinlich ein gut gehütetes Geheimnis, das jemandem eine Menge Schwierigkeiten eintragen kann, sollte es aufgedeckt werden«, entgegnete Fethan. Dann setzte er hinzu, als wäre es ihm gerade eingefallen: »Waren das Bücher aus Papier?«
Eldene starrte ihn verwirrt an. »Bücher aus Papier? Sie bestanden aus Speichermaterial, wie jedes andere Buch auch.«
Fethan schüttelte den Kopf. »Verdammt, ich werde alt!«
Wenig später waren sie hoch genug, um über die Weite der Graslandschaft zurückzublicken, bis zur Siedlungszone dahinter. Durch die nebelhafte Ferne konnte Eldene gerade noch die Stadt ausmachen, und noch weiter entfernt etwas, das im Sonnenlicht funkelte, dort, wo es vom Raumhafen aufstieg. Sie blickte zu den Raumstationen hinauf, die sich vor dem Ball von Kalypse abzeichneten, und vermutete, dass das, was sie gerade gesehen hatte, entweder ein Handelsschiff war, das Squerm-Essenz zu irgendeinem fernen Hafen beförderte, oder ein Transporter der Theokratie, der das gleiche Luxusprotein in unraffinierter Form an die Tische der Theokratie brachte. Vieles wurde, wie sie wusste, dort oben in Getreidezylindern angebaut, aber die religiöse Hierarchie, die ihrer aller Leben beherrschte, fand
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