Der Erdbeerpfluecker
Wandfläche zwischen Tür und Fenster hinzog. Bert benutzte sie, um seine Gedanken zu sortieren.
Alle möglichen Dinge hatte er dort angeheftet. Fotos der Mordopfer und der Orte, an denen man ihre Leichen gefunden hatte. Zeitungsausschnitte. Zettel mit hingekritzelten Gedanken. Zeichnungen der Ketten, die die Opfer getragen hatten. Eine Karte der Umgebung mit Kreuzen an den Stellen, an denen die Morde geschehen waren. Eine ebensolche Karte aus Norddeutschland.
Manchmal tauschte Bert den einen oder anderen Zettel aus. Es gab immer Bewegung an dieser Wand. Jedes Ereignis gestaltete sie neu.
Eine Kollegin, die zusammen mit Bert auf Caros Beerdigung gewesen war, hatte mit einer Digitalkamera unauffällig Fotos von den Trauergästen gemacht. Bert hatte einige davon ausgedruckt und sie ebenfalls angepinnt.
ßußerst unwahrscheinlich, dass der Mörder sich unter die Menge gemischt hatte. Andrerseits war auch das schon vorgekommen. Mancher Mörder verhielt sich wie ein Künstler, der sein vollendetes Werk betrachtet und der ßffentlichkeit vorstellt.
Für gewöhnlich bereitete es Bert keine Mühe, in die Haut eines Mörders zu schlüpfen. Er fand es nicht allzu schwierig, ihre Motive zu verstehen und ihre ßberlegungen nachzuvollziehen. Weil in jedem von uns ein Mörder steckt, dachte er. Nur wollen die meisten es nicht wahrhaben.
Er betrachtete die Fotos von der Beerdigung. Lauter rechtschaffene Menschen, die gemeinsam trauerten. So viele, dass ein fremdes Gesicht gar nicht aufgefallen wäre.
Und wenn der Mörder selbst um Caro trauerte? Welche Beziehung hatte er zu den toten Mädchen gehabt? Waren sie willkürliche Opfer gewesen? Oder hatte der Mörder sie gekannt?
Vielleicht sogar geliebt, dachte Bert. Womöglich zu viel. Oder zu wenig. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und zog Caros Tagebuch zu sich heran.
Ihre Schrift war ihm schon richtig vertraut geworden, hastig hingeworfene, ungelenke Buchstaben, die leicht nach links geneigt waren, als drohten sie jeden Moment auf den Rücken zu fallen. Eine typische Tagebuchschrift, ungeschminkt und ehrlich. Caro war sich sicher gewesen, dass niemand jemals ihre geheimsten Gedanken lesen würde.
Sie benutzte eine schlichte Sprache ohne Schnörkel und Umwege. Manchmal haderte sie mit dem Leben und schrieb sich den Ekel vor den Menschen vom Leib. Und den Hass auf sich selbst.
Caro war nicht gut zu sich gewesen. Sie hatte sich nicht gemocht. Und sie hatte vom Leben nicht erwartet, dass es sie verwöhnte.
Bis sie diesen Mann kennen gelernt hatte. Da schlugen ihre Gefühle Kapriolen.
2. Juli
Jeder meiner Gedanken ist von ihm ausgefüllt. Ich fliege, ich schwebe, hab Schmetterlingsflügel. Mir ist, als hätte ich ihn schon immer gekannt. Dann wieder kommt er mir vor wie ein Fremder. Vielleicht ist das so, wenn man wirklich liebt.
Die Typen vorher verblassen neben ihm. Was habe ich bloß an ihnen gefunden?
Er sieht mich an und sein Blick macht mich stumm. Ich würde alles, alles für ihn tun.
3. Juli
Er hat wenig Zeit. Ich lechze nach den Stunden, in denen ich ihn sehen darf. Bin ausgehungert nach dem Klang seiner Stimme, dem Geruch seiner Haut, den wenigen Berührungen, die er mir erlaubt.
Ich verstehe nicht, warum er so komisch ist. Als hätte er Angst vor meinen Händen und meinen Lippen. Am liebsten scheint er mich anzugucken. Immerzu. Bis ich vor Verlegenheit anfange zu lachen.
4. Juli
Ich habe ihn heute wieder nicht gesehen.
Ein verlorener Tag. Schwarz. Schwarz. Schwarz.
Wo bist du, Liebster?
Ich kenne nicht mal seinen Namen.
5. Juli
Er hat mich geküsst! Endlich!
Sein Atem schmeckte nach Sommer und Sonne.
Die Verliebtheit ließ sie fast lyrisch werden. Behutsam blätterte Bert die nächste Seite um. Jedes ihrer Worte war so lebendig, so hoffnungsvoll, so überschäumend und glücklich. Obwohl sich allmählich Zweifel ankündigten.
6. Juli
Warum darf ich keinem von uns erzählen? Zum ersten Mal lüge ich Jette und Merle an. Aber er will, dass es ein Geheimnis bleibt. Er sagt, er hat schlechte Erfahrungen gemacht.
Schlechte Erfahrungen! Soll das ein Witz sein? Mein Leben ist eine Patchworkdecke. Aus lauter miesen Erfahrungen zusammengenäht.
7. Juli
Als spielten wir unsere Liebe bloß. Für ein unsichtbares Publikum. Als hätte irgendwer den Ablauf des Drehbuchs schon lange im Voraus festgelegt.
Ich kann sagen, was ich will - er hört mir nicht zu. »Es ist noch zu früh.« Das ist seine Antwort. Jedes Mal.
Er kann sehr
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