Der Erdbeerpfluecker
Als radikale Tierschützerin lebte sie immer mit einem Bein im Knast. Ständig schleppte sie Leute an, die sich bei uns versteckten, bis sie eine Bleibe fanden, die sicherer war. Im Keller stapelten sich Flugblätter, die darauf warteten, verteilt zu werden, und vor Demos hockte Merle nächtelang mit Gesinnungsgenossen auf dem Küchenboden, um Transparente zu beschriften.
Morgens saßen häufig Gestalten mit uns am Tisch, die Caro und ich nie zuvor gesehen hatten. Sie waren von irgendeiner Gruppensitzung übrig geblieben, aßen unser Brot und unseren Käse und bedienten sich an unserem Espressoautomaten.
Und nun machte ausgerechnet Merle sich wie eine überbehütende Mutter darüber Sorgen, dass Caros Bett unbenutzt geblieben war.
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich hab ein komisches Gefühl.«
Auch das gehörte zu Merle. Sie hatte oft merkwürdige Gefühle, die sich im Nachhinein als begründet erwiesen. Manchmal hatte sie auch Träume, die kurze Zeit später wahr wurden. Sie konnte Caro und mich damit in Angst und Schrecken versetzen. Sobald sie uns auf diese ganz spezielle, nachdenkliche Art ansah, befürchteten wir, sie würde wieder von einem dieser Träume erzählen.
Ich schob ihr die Tasse hin und setzte mich. Ich hatte ein unerfreuliches Frühstück mit meiner Mutter überstanden und einen fürchterlichen Vormittag in der Schule. Mich konnte im Augenblick so leicht nichts mehr erschüttern.
»Was für ein Gefühl?«, fragte ich. »Als ob... Mir wäre jedenfalls wesentlich wohler, wenn Caro jetzt durch die Tür käme.« Sie trank ihren Espresso und stand abrupt auf. »Mach dir nichts draus. Vielleicht bin ich ja nur ein bisschen ausgepowert.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss los. Hab Claudio versprochen, heute eine Extraschicht zu übernehmen.«
Merle übernahm neuerdings so häufig Extraschichten, dass Caro und ich schon vermuteten, die Geschichte zwischen ihr und Claudio wäre inzwischen offiziell. Claudio hier, Claudio da. Sie zwitscherte seinen Namen förmlich, und als ihr neulich ein Strauß Blumen gebracht worden war, hatte sie schnell die Karte herausgefischt, damit wir sie nicht lesen konnten.
Das Problem war, dass Claudio bereits eine Verlobte in Sizilien hatte, und in Liebesdingen war Merle altmodisch.
Einige Minuten später fiel die Wohnungstür hinter Merle ins Schloss und ich hörte sie die Treppen hinunterlaufen. Dann war es still. Unangenehm still.
In meinem Zimmer drehte ich den CD-Player auf volle Lautstärke. Dann zog ich
The Importance of Being Earnest
aus dem Regal, setzte mich an den Schreibtisch und fing an, mich auf die Englischklausur vorzubereiten. Nach kurzer Zeit war ich ganz in Oscar Wildes Welt eingetaucht und hatte Merle und ihr komisches Gefühl vergessen.
»Danke, dass Sie sich für mich und meine Fragen Zeit nehmen. Sie sind ein viel beschäftigter Mann, da ist das nicht selbstverständlich.« Imke Thalheim nahm Platz. Er selbst machte es sich auf dem anderen Stuhl bequem und betrachtete die Besucherin, die ein Notizbuch aus ihrer Tasche kramte und ein Federmäppchen, aus dem sie einen silbernen, offenbar sündhaft teuren Kugelschreiber zog.
Eine wortgewandte Frau, wie er es erwartet hatte. Was ihn überraschte, war ihre Schönheit. Er hatte Fotos von ihr in Zeitschriften gesehen, aber keines von ihnen wurde ihr gerecht. Er musste sich zwingen, sie nicht anzustarren.
Sie machte Recherchen für einen Roman, an dem sie gerade arbeitete. Doch das hatte nicht sie ihm erzählt. Das hatte er vom Chef erfahren.
»Die Thalheim hat Verbindungen bis nach ganz oben, Melzig. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Gehen Sie auf sie ein, lassen Sie Ihren Charme spielen, bieten Sie ihr ein bisschen Show, Sie wissen schon...«
Bert hätte es sympathischer gefunden, wenn Imke Thalheim direkt auf ihn zugekommen wäre und nicht den Umweg über den Chef vorgezogen hätte. Er fand diese Golfclubmentalität des Eine-Hand-wäscht-die-andere zum Kotzen.
»Kaffee? Oder lieber Tee?« Er wollte schnell zur Sache kommen. Von wegen, Charme spielen lassen, von wegen, Show bieten. So weit kam es noch, dass er sich anbiederte, bloß weil sie reich war und Beziehungen hatte.
»Ein Kaffee wäre wunderbar.«
»Milch? Zucker?« Wahrscheinlich Süßstoff, dachte er. Jede Wette. Bei der Figur.
»Zucker, bitte.«
Er holte zwei Kaffee aus dem Automaten im Flur, einen mit Zucker und einen mit Milch. Normalerweise lag er mit seinen Einschätzungen zu neunzig Prozent richtig. Als
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