Der Erdbeerpfluecker
sie ihn heute Abend nennen? Sie hatte sich noch gar keinen Namen ausgedacht.
»Liebster«, flüsterte sie. »Geliebter. Mein Ein und Alles.«
Sie lächelte in sich hinein. Früher hätte sie solche Worte für kitschig gehalten. So schrieben die alten Dichter. Aber wer redete denn noch so?
Früher. Damals. Das alles lag weit, weit zurück.
Sie wollte nur noch nach vorn sehen.
Und sich freuen.
Auf ihr gemeinsames Leben.
Heute Abend würde es beginnen.
Kapitel 6
Als ich die Tür aufschloss, kam mir Merle entgegen. Auf den ersten Blick sah ich, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«, fragte ich und pfefferte meine Tasche in die Ecke. Ich hatte ein Interview an der Seite meiner Mutter hinter mir und einen langen Abend, eine Nacht und ein Frühstück in der Mühle. Danach nur noch zwei Stunden Mathe, weil die ersten vier Stunden ausgefallen waren.
Der WDR hatte ein Porträt der Starautorin Imke Thalheim gemacht und dabei großen Wert auf ihr Privatleben gelegt. Und das Privatleben meiner Mutter bestand zurzeit nun mal hauptsächlich aus ihrem Freund Tilo und mir.
Ich hasse solche Auftritte, bei denen ich bloß ein Dekorationsgegenstand für meine berühmte Mutter bin, aber der jüngere der beiden Kameramänner war so sensationell, dass ich gern noch eine Stunde oder zwei drangehängt hätte, nur um weiter von ihm durch die Kamera betrachtet zu werden. Sein unverschämtes, überhebliches und gleichzeitig so zärtliches Lächeln hatte mich komplett überwältigt.
Weil es spät geworden war, hatte meine Mutter mich überredet, bei ihr zu übernachten und die ganze Aktion mit einem gemütlichen Frühstück zu dritt ausklingen zu lassen.
Gemütlich war das Frühstück dann allerdings nicht geworden. Meine Mutter und Tilo sind Morgenmenschen. In aller Herrgottsfrühe springen sie aus dem Bett und sind dem Tag gewachsen. Ich dagegen bin ein Morgenmuffel, und jeder Morgen, an dem ich vor zehn aufstehen muss, ist eine harte Prüfung für mich.
Tilo las Zeitung und meine Mutter wollte sich mit mir unterhalten, während ich nur das Bedürfnis hatte, in Ruhe gelassen zu werden, um überhaupt erst einmal zu mir zu kommen. Vor allem eines kann ich morgens nicht ertragen - ihre Manuskripte zu diskutieren. Doch genau das schwebte ihr vor.
Als ich schließlich aufgebrochen war, hatten wir beide die Nase voll gehabt vom gemütlichen Frühstück zu zweit oder dritt. In der Schule hatte ich mir noch eine Fünf in Mathe abgeholt und mich mit dem Gedanken getröstet, dass es schlimmer nicht mehr werden konnte.
»Caro ist nicht hier«, sagte Merle.
Ich streifte die Schuhe ab und ging in die Küche, um mir was zu trinken zu holen. »Ja und?«
»Sie hat nicht in ihrem Zimmer geschlafen. Das Bettzeug ist unberührt.«
»Du solltest Detektivin werden, Merle. Dafür braucht man nicht mal Abi.«
»Sehr witzig!« Merle senkte die Stimme, als stünde ein Fremder in der Diele, der uns belauschen wollte. »Mal im Ernst - hat sie dir gesagt, dass sie über Nacht wegbleiben will?«
»Nein. Muss sich so ergeben haben.« Ich dachte an unser letztes Gespräch. Vielleicht hatte Caro ihren zurückhaltenden Freund endlich aus der Reserve gelockt?
»Sie hatte keine Schulsachen dabei, als sie weggegangen ist.«
»Jetzt hör aber auf, Merle! Du weißt doch, dass sie die Schule so gut wie nie von innen sieht.« Ich schaltete den Espressoautomaten an. »Willst du einen Cappuccino?«
»Lieber einen Espresso.« Sie setzte sich an den Tisch, zog die Füße auf den Stuhl und legte das Kinn auf die Knie. In der Wohnung trug sie gern selbst gestrickte Socken, im Winter wie im Sommer. Sie sah damit aus wie ein praktischer, vernünftiger Mensch.
»Gehst du heute Abend mit mir ins Kino?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Kann ich mir diesen Monat nicht mehr leisten.«
»Und wenn ich dich einlade?«
»Dann gern.« Bei Merle wusste man nie, wie sie reagieren würde. Normalerweise war sie ziemlich empfindlich, wenn es um Geld ging. Sie nahm lieber etwas von Caro an als von mir. Caros Geld war sauber. Meins, das ja eigentlich das Geld meiner Mutter war, stank nach sozialer Ungerechtigkeit.
Merle war der Meinung, dass es Reichtum überhaupt nicht geben dürfe. Es sei denn, alle wären reich. Ein sozialistisches System nach dem anderen konnte in sich zusammenfallen, Merle blieb eine überzeugte Antikapitalistin.
Ich bewunderte sie dafür. Denn sie war konsequent und das nicht nur in ihren Ansichten, sondern auch in der Praxis.
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