Der Erdbeerpfluecker
Meine Beine konnten ihn kaum noch tragen.
Merles Finger verkrampften sich in meiner Hand. Es fühlte sich schrecklich an. Aber ich brachte es nicht fertig, sie loszulassen. Was würde passieren, wenn ich keinen Halt mehr hätte?
Niemand hatte mich auf so etwas vorbereitet. Ich war dem, was da auf mich zukam, nicht gewachsen. Zum ersten Mal seit langer Zeit vermisste ich meine Mutter. Sterbende Soldaten im Krieg sollen nach ihrer Mutter rufen. Das hatte ich irgendwo gelesen. Es hatte mich betroffen gemacht. Jetzt daran zu denken, kam mir unpassend vor.
Aber was wäre schon passend gewesen? Die Situation selbst stimmte ja nicht einmal. Wir waren nicht zur Polizei gegangen, um in diesem schrecklichen Haus zu landen.
Wir bewegten uns wie in Zeitlupe. Und trotzdem zu schnell. Wir blieben stehen.
Der Kommissar sah uns an. Als wollte er abschätzen, wie viel er uns zumuten könne.
Nichts darfst du uns zumuten, dachte ich. Lass uns gehen. Wir waren voreilig. Bestimmt ist Caro inzwischen wieder zu Hause und brennt darauf, uns zu erzählen, was sie alles erlebt hat. Es ist nicht nötig, dass du uns diese Tote da unter dem Laken zeigst. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen. Ich will es auch nicht.
»Sind Sie bereit?«, fragte er.
Merle klammerte sich an meine Hand und nickte. Ich wollte den Kopf schütteln, aber ich schaffte es nicht. Das Nein steckte tonlos irgendwo in mir fest. War es möglich, vom einen Moment zum andern zu verstummen? Für immer und ewig?
Bis dass...
Ein Mann in einem grünen Kittel, wie aus dem Nichts aufgetaucht, streckte die Hände aus und zog das Laken ein Stück herunter.
Es rauschte in meinen Ohren. Merle ließ mich los, würgte und lief davon. Ich hörte, wie sie sich übergab.
Caro hatte die Augen geschlossen. Sie war weiß und reglos wie eine Marmorstatue. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht erschreckte mich. Der Mund wirkte größer als sonst. Die Lippen waren rissig und wie ausgedörrt. Die Mundwinkel waren leicht herabgezogen, als hätte Caro Schmerzen. Oder als verachte sie die ganze Welt.
Ihr dunkles Haar glänzte. Es war noch so voller Leben, dass es das bleiche Gesicht wie das einer Puppe wirken ließ.
Etwas an Caro war vollkommen fremd. Es hielt mich davon ab, sie zu berühren. Etwas, das einen großen Teil von ihr ausgemacht hatte, fehlte. Ich kam nicht gleich darauf, doch dann wusste ich, was es war.
Caro war keine Clownin mehr.
Ein tiefer Ernst hatte sich auf ihr Gesicht gelegt, endgültig und unwiderruflich.
Sie atmete nicht, lachte nicht, sprang nicht unvermutet auf und rief: Reingelegt! Ihre Schultern schienen noch spitzer geworden zu sein. Ihr zarter Körper hob sich unter dem Tuch kaum ab.
Tränen schossen mir in die Augen. Ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. Der Kommissar zog mich sanft an den Schultern hoch. Ich legte den Kopf an seine Brust. Er nahm mich in die Arme und ließ mich weinen.
Der Mann im grünen Kittel hatte sich inzwischen um Merle gekümmert. Sie war beinah so blass wie Caro. Aber es war eine andere Blässe. Merle würde sich wieder erholen. Caro nicht. Caro war tot.
Tot.
Bisher war das für mich ein Wort wie jedes andere gewesen.
Ich drehte mich noch einmal um. Das Laken war wieder über Caros nackten, schutzlosen Körper gebreitet.
»Bitte ziehen Sie ihr etwas an«, sagte ich zu dem Mann im grünen Kittel. »Ihr ist immer so schnell kalt.«
Er nickte.
Sagte nicht, dass Tote nicht mehr frieren.
Ich dachte es selbst. Und das war viel schlimmer.
Ein bemerkenswertes Mädchen, diese Jette, klar und direkt und von großer Stärke, wenn es darauf ankam. Erst im Laufe des Gesprächs in der Polizeiwache hatte Bert erfahren, dass sie die Tochter von Imke Thalheim war, denn ihre Mutter hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen, während Jette nach ihrem Vater Weingärtner hieß.
Jette sah ihrer Mutter nicht ähnlich. Sie hatte nicht ihre Schönheit und nicht ihre Sicherheit. Trotzdem hatte Bert sie faszinierend gefunden, auf eine ganz andere Art als Imke Thalheim. Jette wirkte zurückhaltend, fast schüchtern. Ihr schmales Gesicht verbarg Gefühle eher, als sie zu zeigen. Wenn sie einen ansah, fühlte man sich durchschaut.
Aber auch verstanden. Etwas an Jette brachte zweifellos jeden dazu, sich ihr anvertrauen zu wollen. Eine Art von Reife, die für ihr Alter ungewöhnlich war.
Bert war zu Caros Eltern unterwegs. Meter für Meter schob sich sein Wagen im Stau über die Autobahn. Der Himmel
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