Der Erdbeerpfluecker
müde, dass ich kaum noch aus den Augen gucken konnte. Und da entdeckte ich sie. Caros Gedichte.
Ich hatte nicht gewusst, dass Caro Gedichte geschrieben hatte. Dieser Fund kam so plötzlich, dass ich nicht gewappnet war. Tränen schossen mir in die Augen. Ich las das erste Gedicht und es war, als hörte ich Caro die Worte sagen.
ABEND
dunkelheit
vorm fenster
auf schwarzem glas
mein gesicht
blass und fern
haut einer andern
Es rieselte mir kalt über den Rücken. Das war gut! Das war richtig gut! Und in jeder Deutschklausur hatte Caro eine Vier bekommen.
FREUNDIN
gegenüber
still
neben mir
nah
nicht worte unbedingt
hände vielleicht
Ich stürzte in die Küche. Alle drehten sich nach mir um. Sie konnten Störungen nicht leiden. Judith war gerade dabei, eine Statistik zu verlesen. Sie hielt kurz inne, sah mich fragend an und las dann zögernd weiter. Ich machte Merle ein Zeichen.
Sie stand sofort auf und kam zu mir. »Was ist los?«
Sah ich so beunruhigt aus? Aber natürlich, ich hatte geweint, hatte wohl immer noch Tränen auf den Wangen. Ich wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht. »Ich muss dir was zeigen.«
Ich zog sie in Caros Zimmer und zeigte auf den Computer. Verständnislos starrte Merle auf den Bildschirm.
SCHMERZEN
und manchmal
brauch ich
mehr
als das bisschen
leben
manchmal
brauch ich
das feuer
unter
der haut
um zu wissen
ich bin
noch
da
Merle war blass geworden. »Ist das...«
Ich nickte. »Caros Gedichte.«
»Sie hat mir nie davon erzählt«, sagte Merle.
»Mir auch nicht.«
»Wie viele sind es?«
»Keine Ahnung. Ich hab sie gerade erst entdeckt.«
»
Um zu wissen - ich bin - noch - da.«
Merle rieb sich die Arme. »Und jetzt ist sie...« Ihre Lippen bebten. Sie plinkerte mit den Augen, um nicht zu weinen.
»Ich drucke sie aus«, sagte ich. »Und wenn ihr in der Küche fertig seid, setzen wir uns zusammen und sehen die Texte durch. Einverstanden?«
Merle nickte und verschwand. Ich setzte mich wieder an den Schreibtisch. Meine Müdigkeit war verflogen. Das würde eine lange Nacht werden. Endlich hatten wir einen Anfang gefunden.
»Stell dir vor«, sagte Malle, der schon Schwierigkeiten hatte, die Worte deutlich auszusprechen. »Fordert die doch tatsächlich den Mörder heraus!«
Georg drehte das Bierglas zwischen den Fingern. Er wusste genau, wie viel er vertrug. Niemals würde er sich in eines dieser besoffenen Schweine verwandeln, die Abend für Abend über der Theke hingen. Die laut und aggressiv wurden oder leise und weinerlich. Er konnte weder das eine noch das andere ausstehen. Es gab nichts Abstoßenderes als die glasigen Hundeaugen der Trinker.
Sein Großvater hatte ihn oft so angesehen. Georg hatte bald gelernt, dass es falsch war, einen Trinker zu unterschätzen. Im einen Moment hatte der Großvater diesen Hundeblick, im nächsten holte er aus und schlug zu.
»Tapferes Mädchen.« Malle schnalzte mit der Zunge. »Und total bescheuert, wenn du mich fragst. Die muss aufpassen, dass sie nicht das nächste Opfer wird.«
Immer wenn von dem Halskettenmörder gesprochen wurde, dauerte es eine Weile, bis Georg begriff, dass er selbst damit gemeint war. Es war ein Wort, das auf ihn nicht zutraf.
Er fühlte sich nicht wie ein Mörder. Es war doch nicht so, dass er gemeine, niedrige Instinkte hatte. Im Gegenteil. Er hatte hohe Erwartungen an das Leben und an eine Frau. Machte ihn das zum Verbrecher? Dass er diese Erwartungen hatte und es nicht ertragen konnte, wenn sie enttäuscht wurden?
Malle hatte seine Informationen von einer der Erdbeerpflückerinnen, die die Trauerfeier für Caro besucht hatte, weil sie gern auf Beerdigungen ging. Aber es hatte auch in den Zeitungen gestanden, sagte er. Sogar das Regionalfernsehen hatte eine kurze Meldung gebracht. Allerdings nur, weil das Mädchen die Tochter einer berühmten Schriftstellerin war.
Georg war nicht bei der Beerdigung gewesen. Er hätte es nicht ausgehalten. Es wäre auch zu gefährlich gewesen. Er musste das Schicksal ja nicht herausfordern. Und Zeitungen las er ganz selten. Deshalb hatte er die Geschichte noch nicht gehört.
Das Mädchen hieß Jette. Caro hatte ihm viel von ihr erzählt. Beim ersten Mal hatte er gedacht, was für ein altmodischer, rechtschaffener Name das doch war. Und hatte sich gefragt, wie wohl das Mädchen aussah, das diesen Namen trug.
»Hübsch ist sie«, hatte Caro gesagt und sich an ihn gekuschelt. »Sie wird dir gefallen.«
Er hatte den Arm um sie
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