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Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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und döste.
    Er beobachtete auch Erle und sah ihn schließlich einschlafen; und nicht lange danach sah er ihn im Schlaf hochfahren und zittern. Er streckte seine Hand aus und legte sie auf Erles Schulter, als dieser halb abgewandt lag. Der Schlafende rekelte sich ein wenig, seufzte, entspannte sich wieder und schlief weiter.
    Es freute Sperber, dass er so viel bewirken konnte. So gut wie ein Zauberer, sagte er sich mit mildem Sarkasmus.
    Er war nicht müde; die Spannung war immer noch in ihm. Er dachte über all das nach, was Erle ihm erzählt hatte und worüber sie am Nachmittag gesprochen hatten. Er sah Erle auf dem Weg neben dem Kohlbeet stehen und den Zauberspruch zu den Ziegen sprechen -und erinnerte sich an die hochmütige Gleichgültigkeit der Ziegen gegenüber den machtlosen Worten. Er dachte daran zurück, wie er früher den Namen des Sperbers gesprochen hatte, des Habichts, des Grauadlers, wie er sie vom Himmel zu sich herunter gerufen hatte, wie sie herabgestoßen waren mit rauschenden Schwingen, um seinen Arm mit ihren eisernen Krallen zu packen und ihn anzustarren, Auge in grimmiges, goldenes Auge ... Nichts davon war geblieben. Er konnte prahlen, sein Haus einen Falkenhorst nennen, aber er hatte keine Schwingen.
    Doch Tehanu hatte welche. Sie flog auf den Schwingen des Drachen.
    Das Feuer war heruntergebrannt. Er mummelte sich in seine Schaffelldecke und lehnte den Kopf gegen die Wand, die Hand immer noch auf Erles träger, warmer Schulter. Er mochte den Mann und bedauerte ihn.
    Er durfte nicht vergessen, ihn gleich morgen zu bitten, den grünen Krug zu flicken.
    Das Gras neben der Mauer war kurz, trocken, tot. Kein Wind blies, es zu kräuseln.
    Er schrak hoch, erhob sich dabei halb von seinem Stuhl, und nach einem Augenblick der Verwirrung legte er seine Hand wieder auf Erles Schulter, griff sie ein bisschen fester und flüsterte: »Hara! Komm da weg, Hara!« Erle schauderte, dann entspannte er sich wieder. Er seufzte, drehte sich ein Stück weiter, auf sein Gesicht, und lag still.
    Sperber saß da, die Hand auf dem Arm des Schlafenden. Wie war er selbst dorthin gekommen, zu der Steinmauer? Er hatte nicht mehr die Macht, hatte keine Möglichkeit, den Weg dorthin zu finden. Wie schon in der Nacht zuvor hatte Erles Traum oder Vision, Erles wandernde Seele ihn mit sich zum Rand des dunklen Landes gezogen.
    Er war jetzt hellwach und starrte auf das graufarbene Viereck des Westfensters, das voller Sterne war.
    Das Gras unter der Mauer ... Weiter unten, wo der Hang in die Ebene des düsteren, trockenen Landes überging, wuchs keines. Er hatte Erle gesagt, dass dort unten nichts als Staub und Stein sei. Er sah diesen schwarzen Staub, diesen schwarzen Stein jetzt vor sich. Dürre Flussbetten, in denen niemals Wasser floss. Nichts Lebendes. Kein Vogel, keine Feldmaus, die sich irgendwo verkroch, kein Gesumm und Geglitzer von kleinen Insekten, den Geschöpfen der Sonne. Nur die Toten mit ihren leeren Augen und ihren stummen Gesichtern.
    Aber starben Vögel nicht auch?
    Eine Maus, eine Mücke, eine Ziege - eine weißbraune, gelbäugige, schamlose Ziege mit flinken Hufen, Sippy, die Tehanus Liebling gewesen war und die im letzten Winter hochbetagt gestorben war - wo war Sippy?
    Nicht im trockenen Land, im düsteren Land. Sie war tot, aber sie war nicht dort. Sie war da, wo sie hingehörte, im Dreck. Im Dreck, im Licht, im Wind, dort, wo das Wasser aus dem Stein sprang, wo das gelbe Auge der Sonne leuchtete.
    Warum dann, warum dann ...
    Er schaute Erle beim Richten des Kruges zu. Dickbauchig und jadegrün, war er ein Lieblingsstück von Tenar gewesen; sie hatte ihn vor Jahren den ganzen weiten Weg vom Eichenhof hierher geschleppt. Er war ihm vor kurzem aus der Hand geglitten, als er ihn aus dem Regal genommen hatte. Sorgfältig hatte er die beiden großen Bruchstücke und die vielen kleinen Scherben aufgelesen mit dem Gedanken, sie wieder zusammenzuleimen, damit der Krug wenigstens noch zum Anschauen taugte, wenn auch nie wieder zu seinem ursprünglichen Zweck. Jedes Mal, wenn er die Scherben, die er in einem Korb aufbewahrte, gesehen hatte, hatte er sich über seine Ungeschicklichkeit geärgert.
    Jetzt beobachtete er fasziniert Erles Hände. Schlank, kräftig, geschickt, ohne jede Hast, umfingen sie die Form des Kruges, fügten sanft streichelnd, richtend, glättend die Bruchstücke zusammen, hier kraftvoll drückend, dort sanft liebkosend; schmeichelnde Daumen lockten und geleiteten die kleineren Scherben wieder

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