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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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denn die Gelegenheit nutzen, Ziegenhirte, die ich Ihnen gegeben habe? Werden Sie uns eine Illusion vorspiegeln, einen Feuerball vielleicht, oder haben Sie einen Heilsegen für die Krätze Ihrer Ziegen zur Verfügung?«
    »Was sähen Sie denn gern, Jasper?«
    Der Ältere hob die Schultern. »Rufen Sie doch einen Geist aus dem Totenreich herbei, mir ist alles recht!«
    »Gut, das werde ich tun.«
    »Nein, das werden Sie nicht tun.« Jasper starrte ihn an. Wut flammte in seinen Augen, sein Hochmut war erschüttert. »Das werden Sie nicht tun. Sie können es nicht tun. Sie spielen sich auf …«
    »Bei meinem wahren Namen, ich tue es.«
    Alle standen wie vom Donner gerührt.
    Ged machte sich los von Vetsch, der ihn mit schierer Körperkraft zurückhalten wollte. Dann verließ er den Innenhof, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Die tanzenden Werlichtsterne sanken langsam zur Erde. Jasper zögerte eine kurze Weile, dann folgte er Ged; und die übrigen folgten zögernd, ohne miteinander zu reden, neugierig und furchtsam.
    Die Hänge des Rokkogels erstreckten sich schwarz in die Dunkelheit einer Sommernacht kurz vor Mondaufgang. Die Nähe des Berges, wo so viele Wunder gewirkt wurden, bedrängte sie, und es war ihnen, als laste selbst die Luft auf ihnen. Als sie auf der Berghalde standen, mußten sie an die Wurzeln dieses Hügels denken, die tief, tiefer als das Meer, hinunterreichten bis zu den uralten, blinden und geheimnisvollen Feuern, die in der Erdmitte lodern. Am Osthang blieben sie stehen. Die Sterne erhoben sich funkelnd über dem schwarzen Gras des Bergrückens.
    Ged stieg etwas höher hinauf als die anderen und drehte sich nach ihnen um, während er mit klarer Stimme fragte: »Jasper! Wessen Geist soll ich rufen?«
    »Rufen Sie, wen Sie wollen. Es wird Ihnen ja doch niemand folgen.« Jasper verschluckte sich beim Sprechen, vielleicht ärgerte er sich. Geds Stimme dagegen klang milde und spöttisch. »Haben Sie etwa Angst?«
    Er wartete Jaspers Antwort nicht ab, vielleicht gab er gar keine. Ganz plötzlich war ihm Jasper gleichgültig. Hier auf dem Rokkogel spürte er weder Haß noch Zorn, nur eine tiefe Gewißheit erfüllte ihn. Er brauchte niemanden zu beneiden. Seine Macht, das fühlte er, war hier, auf diesem dunklen Boden voll magischer Kräfte, größer denn je. Sie erfüllte und drängte ihn, und er erbebte vor ihrer Gewalt. Jetzt wußte er, daß Jasper weit unter ihm stand, daß er vielleicht nur gesandt war, um ihn heute nacht hierherzulocken, daß er bestimmt kein Rivale, sondern wahrscheinlich nur ein Mittel war, das der Erfüllung seines, Geds, Schicksals diente. Unter seinen Sohlen spürte er, wie das Wurzelwerk des Berges sich immer tiefer in die Dunkelheit streckte, und über seinem Haupt sah er das ferne funkelnde Feuer der Sterne. Dazwischen stand er, und alles, was ihn umgab, war ihm untertan. Er befand sich im Mittelpunkt des Seins.
    »Haben Sie nur keine Angst«, sprach er lächelnd. »Ich rufe den Geist einer Frau. Elfarran, die edle Frau aus dem Enladlied, werde ich rufen.«
    »Die starb vor tausend Jahren; ihre Gebeine sollen auf dem Meeresboden bei Éa liegen, aber vielleicht gab es sie überhaupt nicht.«
    »Was bedeuten Ort und Zeit für die Toten? Lügen die alten Lieder?« erwiderte Ged sanft, aber mit leichtem Spott in der Stimme. Dann sagte er: »Beobachten Sie die Luft zwischen meinen Händen.« Dann drehte er sich etwas zur Seite und stand still.
    Langsam öffnete er die Arme weit zur Willkommensgeste, womit jede Invokation beginnt. Er begann zu reden.
    Vor mehr als zwei Jahren hatte er diese Zauberformel des Gebietens in Ogions Buch gelesen. Nie mehr seither hatte er sie gesehen. Dunkel war es damals gewesen, als er sie las. Und wieder umgab ihn Dunkelheit, aber es war ihm, als liege das Buch aufgeschlagen vor ihm, und langsam las er den Spruch ab. Jetzt verstand er ihn. Er las laut, Wort für Wort. Auch die Zeichen waren ihm jetzt klar, die andeuteten, wie die Stimme moduliert werden mußte und welche Körperbewegungen ausgeführt werden mußten.
    Die anderen Jungen standen reglos da und schauten auf Ged. Manche erschauerten, denn der große Bannspruch begann zu wirken. Noch immer sprach Ged mit ruhiger Stimme, aber sie klang verändert, ein tiefes Singen war jetzt darin zu hören. Die Worte, die er sprach, waren ihnen unbekannt. Ged verstummte. Ganz allmählich erhob sich ein Wind im Gras. Ged fiel auf die Knie und rief laut. Dann fiel er mit ausgestreckten Armen vornüber, als

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