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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Zauberkraft errichteten unsichtbaren Wällen, die Rok beschützten, aber jetzt befand er sich irgendwo auf der Welt und versteckte sich. Wäre Ged in dieser Nacht gestorben, dann hätte der Schatten versucht, die Tür zu finden, die Ged geöffnet hatte, und wäre ihm ins Totenreich gefolgt oder dorthin, woher er ursprünglich kam; und darum wartete der Gebieter am Rokkogel. Aber Ged lebte.
    Er wurde in der Heilklinik zu Bett getragen, und dort sah der Meister der Kräuterkunde nach seinen Verletzungen an Gesicht, Hals und Schultern. Es waren tiefe, schwere und bösartige Wunden.
    Schwarzes Blut quoll aus ihnen hervor, und kein Bannspruch konnte es stillen, selbst durch die in Spinnweben gehüllten Perriotblätter sickerte es. Blind und stumm lag Ged auf seinem Lager, er glühte im Fieber und lag wie ein Stock in langsam brennendem Feuer. Kein Zauberspruch vermochte das Brennen in ihm zu kühlen.
    Nicht weit von ihm, im offenen Innenhof, wo der Brunnen plätscherte, lag der Erzmagier. Auch er regte kein Glied, aber nicht Hitze, sondern Kälte durchzog seine Glieder. Nur seine Augen bewegten sich und sahen das im Mond glitzernde Wasser und die hellbeschienenen, leise rauschenden Blätter des Baumes. Die ihn Umstehenden sagten keine magischen Formeln und wirkten keine heilenden Zauber. Ab und zu sprachen sie untereinander, wandten sich dann wieder ihrem Herrn zu und schauten ihn an. Ruhig lag er vor ihnen, die gebogene Nase, die hohe Stirn und das weiße Haar nahmen im bleichen Mondlicht die Farben von Bein an. Um der ungezügelten Zauberformel Einhalt zu gebieten und um den Schatten von Ged wegzutreiben, hatte Nemmerle seine ganze Macht aufbieten müssen, und mit ihr verließen ihn seine körperlichen Kräfte. Er lag im Sterben. Aber das Sterben eines großen Magiers, der oft in seinem Leben am dürren, steilen Abhang des Totenreiches entlanggehen mußte, war eine seltsame Sache: Der Sterbende beschreitet diesen Weg nicht blind, sondern er geht sicheren Fußes, denn er kennt sich aus. Und als Nemmerle hinaufschaute in die Blätter des Baumes, wußten die ihn Umstehenden nicht, ob er die im Morgengrauen verblassenden Sterne der Sommernacht sah oder ob er die anderen Sterne sah, die ewiglich hinter den Hügeln bleiben, die keine Morgenröte kennen.
    Der Rabe von Osskil, sein Freund seit dreißig Jahren, war verschwunden. Niemand hatte gesehen, wohin er geflogen war. »Er fliegt ihm voraus«, sagte der Meister der Formgebung leise zu denen, die mit ihm wachten.
    Der kommende Tag war warm und klar. Stille lag über dem Großhaus und den Straßen von Thwil. Niemand sprach laut. Gegen Mittag läuteten die Glocken im Turm, in dem der Meister der Lieder wohnte, dunkel und schwer.
    Am nächsten Tag versammelten sich die neun Meister von Rok im dunklen Schatten des Immanenten Haines. Selbst dort umgaben sie sich noch mit neun unsichtbaren Wällen, damit kein Mensch und keine Macht zu ihnen sprechen oder sie hören konnten, während sie unter all den Magiern, die im Erdseegebiet tätig waren, denjenigen erwählten, der ihr neuer Erzmagier werden würde. Genscher von Weg wurde gewählt. Ein Schiff wurde bestellt, das sofort über die Innensee zur Insel Weg segelte, um den neuen Erzmagier nach Rok zu bringen. Meister Windschlüssel stand im Heck des Schiffes. Er rief einen Zauberwind herbei, der die Segel rasch füllte und das Boot über die Wellen dahinjagte.
    Von alldem wußte Ged nichts. Vier heiße Sommerwochen lang lag er blind, taub und stumm auf seinem Krankenlager, nur manchmal stöhnte er und schrie wie ein Tier. Aber schließlich, unter der geduldigen Pflege des Kräuterkundigen, schlossen sich seine Wunden, und das Fieber ließ nach. Und ganz allmählich schien es auch, als höre er wieder, aber er redete nicht. An einem sonnigen Herbsttag öffnete der Meister die Läden des Raumes, in dem Ged lag. Seit der Finsternis auf dem Rokkogel war er von Dunkelheit umgeben gewesen. Jetzt fiel Tageslicht in sein Zimmer, und er sah die Sonne scheinen. Er barg das verletzte Gesicht in den Händen und weinte.
    Selbst als der Winter kam, konnte er nur unter Stammeln reden. Der Meister behielt ihn bei sich in der Heilklinik und versuchte, Geds Körper und Geist langsam wieder erstarken zu lassen. Erst im Frühjahr darauf entließ er ihn und trug ihm auf, zuallererst zu dem Erzmagier zu gehen und ihm den Treueeid zu leisten. Dieser Pflicht hatte er nicht mit den andern nachkommen können, damals, als Genscher nach Rok kam.
    Keiner

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