Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
wolle er die Erde umfassen, und als er sich erhob, hielt er etwas Dunkles in den angespannten Armen, so schwer, daß er vor Anstrengung zitterte, bis er endlich auf den Füßen stand. Der warme Wind wimmerte im wehenden schwarzen Gras des Hügels. Keiner sah, ob die Sterne noch funkelten, denn keiner blickte nach oben.
Die Worte der Zauberformel kamen zittrig und halb flüsternd über Geds Lippen, dann aber schrie er laut und klar: »Elfarran!«
Und noch einmal wiederholte er den Namen: »Elfarran!«
Die formlose Masse in seinen Armen spaltete sich in zwei Teile. Ein fahles, schmales Licht glomm zwischen seinen ausgestreckten Armen, ein schwach leuchtendes Oval, das sich vom Boden bis zu seinen ausgestreckten Armen dehnte. Einen kurzen Augenblick lang sah man in dem Licht die Umrisse einer menschlichen Gestalt: eine große Frau, die über die Schulter zurückblickte. Das Gesicht war bildschön, aber die Züge spiegelten Leid und Furcht wider.
Nur ganz kurz war das Glimmen des Geistes zu sehen. Dann weitete sich das fahle Oval zwischen Geds Armen und wurde immer heller. Es dehnte sich aus, es spaltete die Dunkelheit der Erde und der Nacht, es riß am Gewebe der Welt. Das Licht steigerte sich zu furchtbarer Helle. Und aus diesem unerträglich hellen, formlosen Spalt kletterte ein unförmiger schwarzer Schatten, blitzschnell und abscheulich, und sprang Ged mit einem Satz ins Gesicht. Vom Anprall und Gewicht dieses Dinges getroffen, taumelte Ged rückwärts und stieß einen kurzen heiseren Schrei aus. Der kleine Otak, der auf Vetschens Schulter saß und alles beobachtete, das Tier ohne Stimme, schrie plötzlich ebenfalls und setzte zum Sprung an, um den Angreifer zu packen.
Ged fiel zu Boden, sich krümmend und wehrend, während über ihm der blendendweiße Riß inmitten der Schwärze der Nacht wuchs und breiter wurde. Die Jungen, die gekommen waren, um zuzuschauen, waren schon davongerannt. Jasper kauerte am Boden und bedeckte die Augen vor dem schrecklichen Licht. Nur Vetsch rannte, eilte seinem Freund zu Hilfe. Er allein sah den unförmigen, schattenhaften Klumpen, der sich in Geds Gesicht verkrallt hatte. Wie ein schwarzes Ungeheuer sah es aus, so groß wie ein Kind, aber es schien zu schwellen und zu schrumpfen; es hatte weder Kopf noch Gesicht, nur vier Klauen, mit denen es Ged packte und an ihm riß. Vetsch schluchzte vor Grauen. Trotzdem streckte er die Hände aus, um das Ding von Ged wegzuziehen. Aber noch bevor er es berührte, fühlte er sich gebannt und konnte sich nicht mehr bewegen.
Die unerträgliche Helle verblaßte. Ganz langsam schlossen sich die zerrissenen Ränder der Erde. In der Nähe flüsterte eine Stimme, so sanft und leise wie das Rauschen eines Baumes oder das Rieseln eines Brunnens.
Das Licht der Sterne schimmerte wieder, das Gras an der Berghalde schien weiß im Licht des aufgehenden Mondes. Die Nacht war geheilt. Das Gleichgewicht zwischen Hell und Dunkel war wiederhergestellt. Das Schattenungeheuer war verschwunden. Ged lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt in der Geste des Willkommens und der Invokation. Sein Gesicht blutete, und sein Hemd hatte große dunkle Flecken. Der kleine Otak kauerte zitternd an seiner Schulter. Über ihnen stand ein Mann, dessen Umhang weiß im Mondlicht leuchtete: der Erzmagier Nemmerle.
Silbrig bewegte sich das Ende von Nemmerles Stab über Geds Oberkörper. Sachte berührte es erst die Stelle, unter der Geds Herz lag, und dann Geds Lippen, während Nemmerle leise murmelte. Ged regte sich, seine Lippen öffneten sich zum Atmen. Dann hob der Erzmagier den Stab, setzte ihn auf die Erde und lehnte sich mit gebeugtem Haupt schwer darauf, als fehle es ihm an Kraft zum Stehen.
Vetsch fühlte sich vom Bann befreit und schaute sich um. Er sah, daß sie nicht allein waren; der Meister des Gebietens und der Meister der Verwandlungen standen nun bei Ged. Keine große Zauberhandlung konnte gewirkt werden ohne das Wissen dieser Männer. War es nötig, so konnten sie mit Windeseile kommen, aber keiner war so schnell wie der Erzmagier, während andere, darunter auch Vetsch, Ged in die Räume des Meisters der Kräuterkunde trugen.
Der Meister des Gebietens jedoch blieb die ganze Nacht über auf dem Rokkogel. Nichts bewegte sich dort am Berg, wo die Welt selbst aufgerissen worden war. Kein Schatten kam zurückgekrochen im Mondlicht und suchte nach dem Riß, durch den er in sein Reich zurückkehren konnte. Er floh vor Nemmerle und vor den mächtigen, von
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