Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
seiner Mitschüler hatte ihn während der langen Monate seiner Krankheit besuchen dürfen. Als er jetzt an einigen Schülern vorbeikam, tuschelten sie sich gegenseitig zu: »Wer ist das?« Er war behende, gewandt und stark gewesen, jetzt ging er gekrümmt vor Schmerzen, zögernd und langsam und hielt das Gesicht gesenkt, das auf der linken Seite von tiefen weißen Narben bedeckt war. Er vermied jene, die ihn kannten, und jene, die ihn nicht kannten, und ging geradewegs zum Erzmagier. Dort, wo ihn einst Nemmerle erwartet hatte, stand nun Genscher und wartete auf ihn.
Wie der frühere Erzmagier, so trug auch Genscher einen weißen Umhang; aber wie bei den meisten Leuten auf Weg und in den Ostbereichen war seine Haut schwarzbraun, und er blickte Ged unter dichten dunklen Brauen hervor an.
Ged kniete vor ihm nieder, bereit, ihm Gehorsam und Treue zu schwören. Genscher stand eine Weile, ohne zu reden.
»Ich weiß, was du getan hast«, sagte er schließlich, »aber dich selbst kenne ich nicht. Ich kann deinen Eid nicht annehmen.«
Ged stand wieder auf und hielt sich am Stamm des jungen Baumes fest, um nicht umzufallen. Er suchte lange nach Worten: »Muß ich Rok verlassen?«
»Willst du Rok verlassen?«
»Nein.«
»Was willst du?«
»Hierbleiben … lernen … das Böse zu entkräften …«
»Selbst Nemmerle konnte das nicht tun. Nein, ich hätte dich nicht weggehen lassen. Schutzlos wärst du, denn nur die Macht der Meister und die Befestigungen dieser Insel, die jeder Ausgeburt des Bösen den Zutritt verweigern, gewähren dir Sicherheit. Verließest du uns jetzt, fände dich das Ding, das du freigesetzt hast, und würde sich in dir festsetzen und dich besitzen. Kein Mensch wärst du mehr, sondern ein Gebbeth, eine Marionette, das willige Werkzeug des Bösen, das du ans Licht des Tages gebracht hast. Hier mußt du bleiben, bis du stark und weise genug bist, dich selbst dagegen zu wehren – wenn es je sein muß. Selbst jetzt wartet es auf dich. Ich bin ganz sicher, daß es auf dich wartet. Hast du es seit jener Nacht wiedergesehen?«
»In Träumen nur.« Ged verstummte. Dann, mit Schmerz und Scham in der Stimme, fügte er hinzu: »Ehrwürdiger Herr Genscher, ich weiß nicht, was es war – das Ding, das der Bann freisetzte und das mich packte.«
»Auch ich weiß es nicht. Es hat keinen Namen. Eine große Macht liegt in dir. Sie ist dir angeboren. Diese Macht hast du mißbraucht, du hast einen Zauber gewirkt, für den du noch nicht reif genug warst, denn du hast noch nicht begriffen, wie dieser Zauber das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse stören kann. Und du hast es getan, weil dich Stolz und Haß dazu trieben. Wunderst du dich über das Unheil, das es nach sich zog? Du hast den Geist einer Toten zu dir gerufen, und mit ihm kam ein Etwas von den Mächten, die außerhalb des Lebens bestehen. Es kam ungerufen von dort her, wo die Dinge keinen Namen haben. Aus Bösem bestehend, ist sein Ziel, Böses durch dich zu wirken. Die Macht, die du besitzt, es zu dir zu rufen, gibt ihm gleichzeitig Macht über dich! Du bist mit ihm verbunden. Es ist der Schatten deiner Anmaßung, deiner Unwissenheit, der Schatten, den du wirfst. Besitzt ein Schatten einen Namen?«
Ged fühlte sich elend und erschöpft. Endlich sagte er: »Es wäre besser gewesen, ich wäre gestorben.«
»Wer gibt dir das Recht, darüber zu urteilen, du, für den Nemmerle sein Leben ließ? Hier bist du sicher. Hier kannst du wohnen und deine Studien fortsetzen. Ich habe gehört, daß du ein guter Schüler warst. Geh und tu deine Arbeit. Tu sie gut. Mehr kannst du nicht verlangen.«
Genscher verstummte und war plötzlich verschwunden, wie es unter Magiern üblich ist. Ged sah dem Wasserstrahl des Brunnens zu, wie er im Sonnenschein aufstieg und wieder herunterfiel, und er lauschte seinen Worten. Er dachte an Nemmerle. Hier hatte er einst gestanden, und es war ihm gewesen, als sei er ein von der Sonne gesprochenes Wort. Jetzt hatte die Dunkelheit zu ihm gesprochen, ein Wort, das nie mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Er verließ den Hof und kehrte in sein ehemaliges Zimmer im Südturm zurück, das man ihm freigelassen hatte. Dort blieb er allein. Als der Gong zum Essen rief, ging er hinunter und setzte sich ganz unten an den Langtisch. Er sprach kaum zu den anderen und hielt das Gesicht gesenkt, selbst die Jungen, die ihn freundlichst begrüßten, blickte er kaum an. Nach ein paar Tagen ließ
Weitere Kostenlose Bücher