Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
zweiundfünfzig Jahre einmal vorkam. Es wurden Festlichkeiten geplant, die sich über zwei Nächte erstreckten. In der ersten Nacht, der kürzesten des Jahres, spielten die Flöten draußen auf dem Feld, während die Straßen von Thwil vom Trommelschlag widerhallten und von Fackeln erleuchtet wurden; über der mondhellen Bucht erklang der Gesang vieler Stimmen. Bei Sonnenaufgang stimmte der Meister der Lieder den großen Gesang von den Taten von Erreth-Akbe an, der beschreibt, wie die weißen Türme von Havnor errichtet wurden, wie Erreth-Akbe von der Urinsel Éa aus durch das ganze Inselreich und die Außenbereiche bis ans äußerste Ende des Westens fuhr und wie er dort, am Ende des offenen Meeres, auf den Drachen Orm stieß; er sang von Erreth-Akbe, dessen Gebeine unter zertrümmerter Rüstung dort an der einsamen Küste von Selidor zwischen den Überresten des Drachen liegen, dessen Schwert aber den höchsten Turm von Havnor krönt und das rot glüht, wenn die Sonne im Innenmeer untergeht.
Als der Gesang zu Ende war, begann der Langtanz. Städter und Meister, Schüler und Bauern, Männer und Frauen, alle tanzten in der Dämmerung und Dunkelheit draußen auf den Straßen von Thwil hinunter zum Strand, begleitet von den Schlägen der Trommel und dem Trillern der Flöten und Pfeifen. Sie tanzten immer geradeaus, hinaus aufs Meer unter dem Mond, der nur einen Tag älter als der Vollmond war. Die Musik verlor sich allmählich im Getöse der Brandung. Als der Himmel sich im Osten lichtete, kehrten sie wieder zurück zum Strand und bewegten sich die Straßen aufwärts. Die Trommeln waren verstummt, nur die Flöten tönten leise und schrill. Auf jeder Insel im Inselreich wurde in dieser Nacht das gleiche Zeremoniell abgehalten, derselbe Tanz, dieselbe Musik verbanden die vom Meer getrennten Länder.
Erschöpft vom Langtanz, schliefen die meisten Leute den Tag über und trafen sich erst abends wieder, um Speis und Trank gemeinsam einzunehmen. Im Großhaus hatte sich eine Gruppe von Lehrlingen und Zauberern zusammengetan, die ihre Abendmahlzeit vom Refektorium hinaus in den Innenhof trugen, um unter sich zu sein. Unter ihnen befanden sich auch Vetsch, Jasper und Ged sowie einige vom Einsamen Turm, die man für die Festlichkeiten kurz entlassen hatte. Die ungefähr fünfzehn Burschen aßen und lachten und amüsierten sich großartig. An ausgefallenen Ideen fehlte es nicht, sie übertrafen einander an Einfällen und zauberten Kunststücke, die einem Königshof Ehre gemacht hätten. Einer der Jungen sorgte für die Beleuchtung des Hofes: Über hundert Werlichtsterne, wie Schmuckstücke schillernd, formten ein Netz zwischen ihnen und den Sternen des Himmels; zwei andere Jungen kegelten mit grünen Lichtkugeln und verzauberten Kegeln, die wegsprangen, wenn sich die Kugel näherte; Vetsch saß mit überkreuzten Beinen über ihnen in der Luft und aß gebratene Hähnchen; einer der Jungen versuchte, ihn herunterzuziehen, aber Vetsch lächelte nur überlegen und schwebte etwas höher, außer Reichweite; ab und zu warf er Hühnerbeine in die Luft, die sich in Eulen verwandelten und schreiend durch das Netz der Sternlichter davonflatterten; Ged schoß sie mit Brotkrümeln ab, die sich in Pfeile verwandelten, und sie fielen herunter und lagen als Krume und Knochen auf der Erde; er versuchte auch, wie Vetsch in der Luft zu schweben, aber da er den Schlüssel zu dieser Formel nicht kannte, mußte er heftig mit den Armen rudern, um in der Luft zu bleiben, und alle lachten über sein holpriges Fliegen und Flattern. Er selbst lachte so herzhaft mit, daß er nicht aufhören konnte, um sich zu schlagen, und je mehr er schlug, desto lauter lachten sie alle zusammen. Ged war übermütig und ausgelassen nach den zwei langen Nächten voller Mondschein und Tanz, Musik und Zauberei, und er war bereit, es mit jedem aufzunehmen.
Endlich kam er wieder herunter und landete federnd neben Jasper, der nie laut lachte und jetzt – etwas von Ged abrückend – sagte: »Sieh da, der Sperber, der nicht fliegen kann …«
»Ist Jaspers-Jaspis nicht ein Edelstein?« erwiderte Ged lachend. »O du Juwel unter uns Zauberern, o du Schmuckstück von Havnor, strahle für uns!«
Der Junge, der die Werlichtsterne über ihnen tanzen ließ, brachte einen davon herunter und ließ ihn Jaspers Kopf umkreisen. Jasper verlor etwas von seiner gewohnten Selbstsicherheit. Er verscheuchte ärgerlich das Licht und brachte es mit einer Handbewegung zum Erlöschen. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher