Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
diesen Worten hob Ged sein vernarbtes Gesicht, und ihre Augen trafen sich. »Estarriol«, sagte er, »ich heiße Ged.«
Dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Vetsch ging den steinernen Gang hinunter und verließ Rok.
Ged blieb eine Weile bewegungslos sitzen wie einer, der gerade eine Botschaft empfing, die so überwältigend ist, daß er sie nicht auf einmal fassen kann. Das Wissen von Vetschens wahrem Namen war ein großes Geschenk.
Der wahre Name eines Menschen ist nur ihm und seinem Namengeber bekannt. Später vielleicht sagt er ihn seinem Bruder, seiner Frau oder einem Freund, aber selbst diese wenigen werden nie seinen wahren Namen nennen, wenn ein Dritter anwesend ist. Sind andere zugegen, so werden sie, wie alle Welt es tut, ihn bei seinem Ruf- oder Spitznamen nennen – Namen wie Sperber, Vetsch oder Ogion, was übrigens ›Tannenzapfen‹ bedeutet. Wenn der einfache Mensch vorsichtig sein muß und seinen Namen nur wenigen Vertrauten mitteilen kann, um wieviel vorsichtiger muß der Zauberkundige sein, der viel gefährlicher und selbst viel gefährdeter ist. Derjenige, der den wahren Namen eines Menschen kennt, hält dessen Leben in seiner Hand. Daher empfing Ged, der den Glauben an sich selbst verloren hatte, von Vetsch eine Gabe, die nur ein Freund geben konnte: den Beweis unerschütterlichen und nicht zu erschütternden Vertrauens.
Ged setzte sich auf seine Matratze und ließ die Werlichtkugel verglimmen, die im letzten Verzischen einen schwachen Geruch von Sumpfgas von sich gab. Er streichelte den Otak, der sich gemütlich rekelte und so selbstverständlich auf seinen Knien einschlief, als wäre er nie woanders gewesen.
Im Großhaus war es ruhig. Es fiel Ged ein, daß heute der Vorabend seiner eigenen Aufnahme war. Vier Jahre waren verstrichen, seit Ogion ihm seinen Namen gegeben hatte. Er erinnerte sich an das eiskalte Bergquellwasser, durch das er damals nackt und namenlos gewatet war. Auch die anderen hellschimmernden Flußbecken der Ar, in denen er so oft geschwommen war, fielen ihm wieder ein; er dachte an Zehnellern, das Dorf, das im Schatten des mächtigen, steilansteigenden Bergwaldes lag, an die morgendlichen Schatten auf der staubigen Dorfstraße, an das Schmiedefeuer an einem Winternachmittag, das vom Blasebalg angetrieben aus der Schmelzgrube in die Höhe loderte, an die nach Kräutern duftende Hütte des Zauberweibes, in der die Luft schwer war von Rauch und Hexereien. Er hatte schon lange nicht mehr an diese Dinge gedacht. Jetzt fielen sie ihm wieder ein, heute, am Vorabend seines siebzehnten Geburtstages. In Gedanken durchmaß er die Jahre und Orte seines kurzen gebrochenen Lebens, und sie formten eine Einheit. Endlich, nach all diesen langen, bitteren, verschwendeten Jahren wußte er, was er schon einmal gewußt hatte – wer er war und wo er war.
Aber wohin er zu gehen hatte in den Jahren, die vor ihm lagen, das konnte er nicht ermessen; und er fürchtete sich, es zu sehen.
Am nächsten Morgen begann er seine Wanderung über die Insel. Der Otak ritt auf seiner Schulter wie damals, als er vom Turm zurückkehrte. Diesmal dauerte es nicht zwei, sondern drei Tage, bis er den Einsamen Turm erreichte. Er war todmüde, als er ihn endlich erblickte, dort über der zischenden, gischtspeienden Brandung des nördlichen Vorgebirges. Innen war er so dunkel und kalt, wie er es in Erinnerung hatte. Kurremkarmerruk saß an seinem hohen Pult und schrieb an langen Namenslisten. Als Ged eintrat, blickte er kurz auf, und ohne Willkommensgruß, so als wäre Ged nie fortgewesen, sagte er: »Geh ins Bett. Müde Leute sind dumme Leute. Morgen kannst du mit dem Buch von den Handlungen der Urheber anfangen und die Namen darin lernen.«
Als der Winter vorbei war, kehrte er ins Großhaus zurück. Er wurde nun zum Zauberer befördert, und danach nahm der Erzmagier Genscher seinen Treueeid entgegen. Jetzt durfte er die hohen Künste und Zaubereien lernen, die über Illusionen hinaus in die Welt der wahren Magie einführen. Er lernte, was davon nötig war, um sich seinen Zauberstab zu verdienen. Die Schwierigkeiten, die er anfänglich im Sprechen von Zaubersprüchen gehabt hatte, ließen in den kommenden Monaten nach, auch seine Hände wurden wieder beweglicher beim Wirken von Sprüchen und Formeln. Aber seine ursprüngliche Schnelligkeit beim Lernen kehrte nie wieder zurück. Der Schrecken hatte ihm eine harte, nachhaltige Lektion erteilt. Doch selbst den mächtigen und höchst gefährlichen Formeln
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