Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
des Gestaltens und Fertigens folgten keine bedenklichen Zeichen oder Begegnungen. Manchmal wiegte er sich in der Hoffnung, daß der Schatten, den er freigesetzt hatte, geschwächt oder irgendwie aus der Welt geflohen sei, denn er ließ ihn ganz in Ruhe, selbst seine Träume wurden nicht gestört. Tief im Herzen jedoch wußte er, daß dies falsche Hoffnungen waren.
Ged fragte die Meister aus und forschte in den alten Büchern der Zauberkunde nach einem Wesen wie diesem Schatten, den er freigesetzt hatte, aber er fand sehr wenig darüber. Nirgends fand er eine Beschreibung eines solchen Dinges, nirgends wurde es direkt erwähnt. Hie und da fand er in den alten Büchern Andeutungen von Wesen, die dem Schattenungeheuer zu ähneln schienen. Es handelte sich nicht um den Geist eines Verstorbenen, und es gehörte auch nicht zu den Urmächten der Erde, aber irgendwie schien es doch mit ihnen verbunden zu sein. In den Drachengeschichten, die Ged sehr sorgfältig las, stieß er auf eine Erzählung über einen uralten Drachenfürsten, der unter den Einfluß einer der Urmächte geriet, eines sprechenden Steines, der sich hoch oben im Norden befand. Der Stein gebot ihm , so hieß es im Buch, den Geist eines Toten aus dem Totenreich zu rufen. Seine Zauberkraft war aber nicht mehr lauter, denn er war dem Steine hörig, und mit dem Geist des Toten erhob sich ein anderes, das nicht gerufen wurde, und dies andere zerstörte sein Wesen und behielt seine Gestalt, und über die Menschen brachte es großes Unheil und Leid. Aber das Buch beschrieb nicht, welch ein Ding es war, noch wie die Geschichte endete. Auch den Meistern war unbekannt, woher solch ein Ding kommen konnte. Von Bereichen außerhalb des Lebens, hatte der Erzmagier gesagt; von der falschen Seite der Welt, sagte der Meister der Verwandlungen; und der Meister des Gebietens sagte: »Ich weiß es nicht.« Er war oft zu Ged gekommen und hatte an seinem Krankenlager gesessen. Sein Blick war ernst und streng wie immer, aber Ged wußte nun, daß eine tiefe Anteilnahme dahinter verborgen war, und er war diesem Meister sehr zugetan. »Ich weiß es nicht. Das aber kann ich über dieses Ding sagen: Nur eine große Macht konnte es rufen, vielleicht nur eine Macht … nur eine Stimme … deine Stimme. Was dies wiederum bedeutet, das weiß auch ich nicht. Du wirst es herausfinden. Du mußt es herausfinden oder sterben – oder noch schlimmer als sterben …« Seine Stimme war gütig, und seine Augen ruhten ernst auf Ged. »Als du jung warst, da dachtest du, daß ein Magier alles tun kann. Auch ich dachte einmal so. Wir alle dachten einmal so. Die Wahrheit sieht aber ganz anders aus. Je mehr die Macht eines Menschen wächst, je weiter sein Wissen reicht, desto enger wird der Pfad, auf dem er wandeln kann. Bis er schließlich nichts mehr wählt, sondern ausschließlich das tut, was er tun muß …«
Nach seinem achtzehnten Geburtstag wurde Ged vom Erzmagier zu dem Meister der Formgebung gesandt. Was dort im Immanenten Hain gelehrt wird, bleibt meist verborgen. Zauber wird dort nicht gewirkt, der Ort selbst ist verzaubert. Manchmal sind die Bäume sichtbar, manchmal sind sie unsichtbar. Sie befinden sich auch nicht immer an der gleichen Stelle. Es wird behauptet, daß die Bäume des Haines selbst weise sind und daß der Meister des Gestaltens seine hohe Magie dort inmitten des Haines lernt. Sollten die Bäume je sterben, so würde auch seine Weisheit verkümmern. Dann würde das Meer wieder aufsteigen und die Inseln der Erdsee verschlingen, die Segoy in vormythischen Zeiten aus der Tiefe hatte aufsteigen lassen, den Menschen und Drachen zur Wohnstätte.
Aber all dies sind Gerüchte, und kein Zauberer wird darüber sprechen.
So vergingen die Monate, und endlich, an einem Frühlingstag, kehrte Ged zum Großhaus zurück. Er hatte keine Ahnung, was nun von ihm verlangt werden würde. An der Tür, die sich auf den Pfad öffnet, der über die Felder zum Rokkogel führt, traf er auf einen alten Mann, der dort auf ihn gewartet hatte. Ged erkannte ihn zunächst nicht, aber nachdem er sich besonnen hatte, fiel ihm ein, daß ihn der alte Mann damals vor fünf Jahren in die Schule eingelassen hatte.
Der alte Mann begrüßte ihn freundlich lächelnd mit seinem Namen und fragte: »Kennst du mich?«
Ged fiel ein, wie er schon öfter über die Meister nachgegrübelt hatte, die man die Neun nennt, von denen er aber nur acht kannte: Windschlüssel, Hand, Sänger, Gebieter, Formgeber, Verwandler und
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