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Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Gezeitenwechsel in sich birgt, hat jedes Kind, das laufen kann, sein eigenes kleines Ruderboot. Hausfrauen paddeln zur Nachbarin auf der anderen Insel, um eine Tasse Kräutertee mit ihr zu trinken, und Hausierer preisen ihre Ware im Rhythmus des Ruderschlags an. Alle Straßen dort bestehen aus Salzwasser, und ab und zu wird die Durchfahrt von Netzen blockiert, die von Haus zu Haus gespannt sind, um die kleinen Fische zu fangen, die man Turbies nennt. Das aus den Turbies gewonnene Öl stellt den Reichtum der Neunzig Inseln dar. Es gibt nur wenige Brücken und überhaupt keine großen Städte. Auf jeder Insel drängen sich Bauernhäuser und Häuser, die den Fischern gehören. Zehn bis zwanzig Inseln sind jeweils zu Inselkreisstädten zusammengeschlossen. Unter diesen ist Untertorning die westlichste. Von dort aus sieht man nicht das Innenmeer, sondern den weiten Ozean, den einsamsten Teil des Inselreiches, in dem nur Pendor liegt, die Dracheninsel; und dahinter erstreckt sich das endlose, öde Meer des Westens.
    Das Haus für den neuen Zauberer der Kreisstadt war vorbereitet. Es stand auf einem Hügel inmitten grüner Gerstenfelder, und eine Gruppe von Pendickbäumen, die im Schmuck ihrer roten Blüten standen, schützte es vor dem Westwind. Unter der Tür stehend, sah man die Strohdächer anderer Häuser, Gärten und Lauben und andere Inseln, wo es wiederum Häuser mit Strohdächern, Felder und Hügel gab. Dazwischen wanden sich zahlreiche helle Meeresstraßen. Das Haus selbst war ganz einfach, ohne Fenster, mit einem Lehmboden, aber besser als das Haus, in dem Ged geboren war. Die Inselleute von Torning schauten ehrfürchtig auf den Zauberer von Rok und entschuldigten sich für die Armseligkeit der Behausung. »Bei uns gibt es keine Steine zum Bauen«, sagte der eine. »Keiner ist reich, aber es verhungert niemand«, sagte ein anderer, und ein dritter fügte hinzu: »Es ist wenigstens trocken, denn ich habe selbst für das Strohdach gesorgt, Herr.« Kein Palast hätte Ged besser gefallen können. Er dankte den Vertretern der Gemeinde für das Haus so offen und ehrlich, daß die achtzehn Männer, als sie in ihren eigenen Booten nach Hause ruderten, den Fischern und Hausfrauen erzählten, wie der neue Zauberer ein gar ungewöhnlicher junger Mann sei, wortkarg, mit verschlossenen Zügen, aber daß er das Herz auf dem rechten Fleck habe.
    Es mag manchem scheinen, daß wenig Grund vorlag, auf diese erste offizielle Stelle stolz zu sein. Gewöhnlich gingen die Zauberer, die auf der Schule in Rok studiert hatten, in die Städte oder auf die Schlösser, um den Fürsten dort zu dienen, die sie sehr schätzten. Wäre alles wie gewöhnlich gewesen, dann hätte man in Untertorning auch nur ein Zauberweib oder einen einfachen Zauberer gehabt, die auch völlig genügt hätten, um Fischnetze zu besprechen, neue Boote gegen Unheil zu feien, Tiere zu heilen und Menschen von ihren Gebrechen zu befreien. Während der letzten Jahre jedoch hatte ein Drache Junge geworfen – man sprach von neun kleinen Drachen –, die in den Türmen der ehemaligen Seefürsten von Pendor hausten und auf ihren schuppigen Bäuchen die Marmortreppen hinauf und herab rutschten und sich durch die Portale zwängten. Es war zu erwarten, daß sie eines Tages, wenn sie voll ausgewachsen waren, auf Nahrungssuche fliegen würden, denn die verwüstete Insel bot wenig Futter. Vier von ihnen, so hörte man bereits, wurden über der südwestlichen Küste von Hosk gesichtet. Sie landeten zwar nirgends, aber man war sicher, daß sie Schafherden, Scheunen und Dörfer ausspionierten. Der Hunger eines Drachen ist langsam im Kommen, aber wenn er geweckt ist, dann nimmt er selten ab. Aus diesem Grund baten die Inselleute von Untertorning, daß man ihnen einen Zauberer von Rok schicke, der sie vor dem Unheil schütze, das ihnen hinter dem westlichen Horizont drohte. Der Erzmagier hatte ihre Bitte erwogen und entschieden, daß ihre Furcht nicht grundlos sei. »Bequemlichkeit findest du dort nicht«, hatte er zu Ged gesagt, als er ihn zum Zauberer machte, »auch keinen Ruhm und keinen Reichtum, vielleicht nicht einmal Gefahr. Willst du trotzdem gehen?«
    »Ja, ich will gehen«, hatte Ged geantwortet, und nicht nur der Gehorsam bewog ihn dazu. Seit der schicksalhaften Nacht auf dem Rokkogel stieß ihn alles, was mit Ruhm oder Schaustücken zu tun hatte, genauso stark ab, wie es ihn früher angezogen hatte. Immerfort begleiteten ihn Zweifel an seiner Stärke, und er fürchtete

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