Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
dieser Welt stammte, dieser Schatten, den er freigesetzt oder geschaffen hatte. Als Geist hatte es auf ihn während all der Jahre gewartet, dort, an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Und dort endlich hatte es ihn gefunden. Jetzt würde es sich an seine Fersen heften, jetzt würde es versuchen, ihn an sich zu ziehen, um ihm seine Stärke zu entwenden, das Leben auszusaugen und sich mit seiner Gestalt zu umgeben.
Bald begann er von diesem Ding als einem Bären ohne Kopf und Gesicht zu träumen. Er glaubte zu hören, wie es unbeholfen die Wände seines Hauses abtastete, um die Tür zu finden. Solche Träume hatten ihn verschont, seit die Wunden geheilt waren, die er von diesem Wesen empfangen hatte. Erwachte er, so fühlte er sich schwach und kalt, und die Narben an Gesicht und Schultern schmerzten.
Eine schlimme Zeit begann nun. Immer wenn er von dem Schatten träumte oder nur daran dachte, überkam ihn die gleiche klamme Furcht. Sein Verstand und seine Macht ließen nach, und er fühlte sich blöde und verwirrt. Er war wütend auf seine Feigheit, aber das half ihm nicht weiter, er suchte Schutz, aber es gab keinen Schutz. Dieses Ding war weder Fleisch noch Geist, noch hatte es Leben in irgendeiner Form, namenlos war es, keine Gestalt besaß es außer der, die er ihm gegeben hatte – eine furchtbare Macht außerhalb der Gesetze dieser sonnenhellen Welt. Das nur wußte er: Es wurde von ihm angezogen, und es würde versuchen, ihm seinen Willen aufzuzwingen und durch ihn zu leben, denn es war seine Kreatur. Aber in welcher Form es sich ihm nähern würde, da es bis jetzt noch keine feste Gestalt hatte, und wie und wann es zu ihm kommen würde, das wußte er nicht.
So gut er es vermochte, schützte er sich, indem er magische Wälle um sein Haus und um die Insel herum errichtete. Solche Wälle mußten dauernd durch Zaubersprüche erneuert werden, und es wurde ihm bald klar, daß er, wenn er seine ganze Macht für seine eigene Sicherheit aufwenden mußte, den Inselbewohnern wenig nützen würde. Gesetzt den Fall, ein Drache von Pendor würde die Insel heimsuchen: Was könnte er – von zwei Feinden bedroht – ausrichten?
Wiederum träumte er, doch dieses Mal war der Schatten im Haus drinnen neben der Tür, und in der Dunkelheit fühlte er, wie er sich nach ihm ausstreckte, und er hörte ihn Worte flüstern, die er nicht verstand. Von Entsetzen geschüttelt, wachte er auf und sandte ein Werlicht durch die Luft, das jede Ecke des Raumes erhellte, bis es keinen Schatten mehr gab im Zimmer. Dann legte er Holz auf die glühende Asche des Herdes, setzte sich neben das Feuer und hörte dem Herbstwind zu, wie er im Stroh des Daches spielte und durch die kahlen Äste der großen Bäume pfiff, die über das Haus ragten. Ged saß und grübelte. Eine lange unterdrückte Wut flammte in ihm auf. Nein, er konnte es nicht ertragen, tatenlos auf dieser kleinen Insel wie in einer Falle herumzusitzen und sich mit zwecklosen Wehr- und Schutzsprüchen hinzuhalten. Aber er konnte auch nicht so einfach auf und davon gehen: Das wäre den Inselbewohnern gegenüber einem Vertrauensbruch gleichgekommen und hätte sie den drohenden Drachen schutzlos preisgegeben. Nur einen Ausweg sah er vor sich.
Am nächsten Morgen ging er zu den Fischern hinunter, die sich am Hauptanlegeplatz von Untertorning sammelten, und suchte den Stadtältesten auf. Zu ihm sprach er: »Ich muß diese Gegend verlassen. Ich bin in Gefahr und bringe diese Gefahr hierher. Ich muß weggehen. Daher bitte ich Sie, mir Erlaubnis zu geben, nach Pendor zu segeln und die Angelegenheit mit den Drachen zu erledigen. Damit komme ich meiner Verpflichtung Ihnen gegenüber nach und bin dann frei, wieder zu gehen. Sollte mein Unternehmen fehlschlagen, dann würde dies nur bedeuten, daß es auch fehlgeschlagen wäre, wenn der Drache hierhergekommen wäre. Es ist besser, dies jetzt herauszufinden, als länger zu warten.«
Der Insulaner starrte ihn mit offenem Mund an. »Ehrwürdiger Herr Sperber«, sagte er, »dort gibt es neun Drachen!«
»Acht davon sollen noch ziemlich jung sein.«
»Aber der alte …«
»Ich habe Ihnen klargemacht, daß ich von hier fort muß. Ich bitte Sie nur um Erlaubnis, Sie alle zuvor von der Drachengefahr zu befreien, wenn ich es kann.«
»Wie Sie wünschen«, antwortete der Älteste, düster blickend. Die Umstehenden hielten ihren jungen Zauberer für übergeschnappt oder tollkühn und blickten ihm wortlos nach. Keiner erwartete, ihn je wieder zu sehen
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