Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
Zusammenarbeit, aus der beide Nutzen zogen. Ged wob seine Zaubersprüche über die Boote, die Peckvarry fertigte oder reparierte, und lernte dabei, wie Boote gebaut wurden und wie man ohne magische Hilfe segelte, denn auf Rok war das Üben in einfachem, gewöhnlichem Segeln etwas zu kurz gekommen. Häufig fuhren sie alle zusammen, Ged, Peckvarry und sein kleiner Sohn Joheth, hinaus aufs Meer, den Meeresstraßen entlang und in die Lagunen hinein, rudernd oder segelnd, jetzt mit diesem, dann mit jenem Boot. Mit der Zeit wurde Ged ein ganz tüchtiger Seemann, und die Freundschaft zwischen ihm und Peckvarry war eine ausgemachte Sache …
Im Spätherbst wurde der kleine Sohn des Schiffsbauers krank. Die Mutter ließ das Zauberweib von der Insel Task kommen, das ziemlich erfolgreich war im Heilen von Krankheiten. Ein oder zwei Tage lang schien auch alles gut zu gehen. Dann aber, mitten in einer stürmischen Nacht, klopfte Peckvarry heftig an Geds Tür und flehte ihn an, zu kommen und das Kind zu retten. Ged rannte mit ihm hinunter zum Boot, und sie ruderten in Windeseile durch die Finsternis und den Regen zum Haus des Schiffsbauers. Dort sah Ged das Kind auf seiner Strohmatratze liegen und die Mutter schweigend neben ihm kauern, während das Zauberweib im Rauch der Korlywurzel den magischen Gesang angestimmt hatte, was wahrscheinlich ihr stärkster Heilzauber war. Sie flüsterte Ged zu: »Mein Herr, ich glaube, er hat Rotfieber und wird diese Nacht nicht mehr überstehen.«
Als Ged neben dem Kind niederkniete und es mit seinen Händen berührte, durchfuhr ihn der gleiche Gedanke, und er schreckte zurück. Während der letzten Monate in der Heilklinik hatte ihm der Kräutermeister viel Heilkunde beigebracht, aber nie hatte er versäumt, ihm zu Beginn und Ende jeder Unterweisung einzuschärfen: Heile die Wunde, mache den Kranken wieder gesund, aber versuche nie, den Geist eines Sterbenden zurückzuhalten.
Die Mutter hatte seine Bewegung wahrgenommen und ihre Bedeutung erkannt. Sie schrie voller Verzweiflung auf. Peckvarry beugte sich über sie und versuchte, sie zu beruhigen: »Frau, unser Herr Sperber wird ihm helfen. Weine nicht mehr! Hier steht er ja. Er wird es schaffen.«
Ged sah die Tränen der Mutter und hörte das Vertrauen, das in Peckvarrys Worten lag. Er brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht konnte das Kind gerettet werden, er mußte versuchen, das Fieber zu senken. Er sagte: »Ich will alles versuchen, Peckvarry!«
Ged badete den kleinen Joheth in frischem, kaltem Regenwasser, das man draußen aufgefangen hatte; dann versuchte er, das Fieber durch einen Zauberspruch aufzuhalten und zu lindern. Der Spruch schlug nicht an und schloß sich nicht zu einem Ganzen; plötzlich war es ihm, als stürbe das Kind in seinen Armen.
Ohne Rücksicht auf sich selbst sammelte er seine ganze Macht und sandte seinen Geist dem enteilenden Geist des Kindes nach, um ihn zurückzuholen. Er rief den Namen des Kindes: »Joheth!« Sein inneres Gehör glaubte eine schwache Antwort zu vernehmen, und er folgte ihr, noch einmal seinen Namen rufend. Plötzlich sah er den Knaben, der ihm weit voraus war und einen weiten dunklen Abhang hinunterrannte. Kein Laut war vernehmbar. Die Sterne über dem Hügel waren seinen Augen unbekannt, doch er kannte die Namen der Sternbilder: die Garbe, die Tür, der Sich-drehende, der Baum. Er erblickte die Sterne, die nie untergehen und nie vor dem Kommen eines neuen Tages verblassen. Er erkannte, daß er dem Kind zu weit gefolgt war. Plötzlich stand er allein und einsam an dem dunklen Abhang. Schwer war es, zurückzugehen, sehr schwer.
Langsam drehte er sich um. Mühsam setzte er einen Fuß vor den andern und bewegte sich den Berg hinan. Schritt folgte Schritt, jede Bewegung war eine Willensanstrengung, und mit jedem Schritt wurde es schwerer.
Die Sterne standen regungslos. Kein Wind wehte über den trockenen, steilen Grund des Abhangs. In dem weiten Reich der Finsternis war er das einzige, das sich bewegte, langsam, mühselig. Er erreichte den Kamm des Hügels und erblickte eine niedrige, aus Steinen errichtete Mauer. Auf der anderen Seite, ihm zugewandt, stand ein Schatten.
Der Schatten besaß weder menschliche noch tierische Gestalt. Er war formlos, kaum wahrnehmbar, und er flüsterte ihm zu, aber keine Worte waren zu vernehmen. Er streckte sich nach ihm aus, und er stand auf der Seite der Lebenden, während Ged auf der Seite der Toten
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