Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
gefallen war.
Oftmals, wenn sie in der warmen Sonne saß, malte sie sich aus, wie sie sich das nächste Mal dort unten in der Dunkelheit unter dem Hügel verhalten würde. Oft stellte sie sich vor, welche Todesart sie für die nächste Gruppe Gefangener anordnen würde, eine ausgefallenere ganz gewiß, eine, die dem Ritual des Leeren Thrones mehr entspräche.
In jeder Nacht wachte sie in der Dunkelheit auf und hörte sich schreien: »Sie sind noch nicht tot! Sie sterben noch!«
Sie hatte viele Träume. In einem Traum mußte sie Essen kochen, Riesentöpfe voll schmackhaftem Brei, die sie in ein dunkles Loch im Boden schüttete. In einem anderen mußte sie einen Behälter voll Wasser, es war ein großes Messingbecken voll, durch die Dunkelheit zu jemandem hintragen, der durstig war. Aber sie konnte diesen Menschen nicht erreichen. Sie wachte auf und war selbst durstig, aber sie stand nicht auf, um zu trinken. Sie blieb auf ihrem Bett in dem Raum ohne Fenster liegen. Ihre Augen waren weit offen.
Eines Morgens kam Penthe, um sie zu besuchen. Arha sah sie von der Veranda des Kleinhauses aus näher kommen, mit sorgloser, unbekümmerter Miene, als hätte sie der Zufall gerade hierhergeführt. Hätte Arha sie nicht angesprochen, so wäre sie die Stufen nicht heraufgestiegen. Doch Arha war einsam und redete sie an.
Penthe sank vor Arha auf ein Knie nieder, wie es alle vor der Einen Priesterin tun mußten, und ließ sich dann auf eine Stufe unterhalb von Arha plumpsen. »Puhhh!« Sie stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. Inzwischen war sie ziemlich groß und rundlich geworden, und wenn sie sich viel bewegte, wurde sie immer so rötlich wie eine Kirsche. Auch jetzt war sie ganz rot vom Laufen.
»Ich habe gehört, daß du krank bist. Ich habe dir ein paar Äpfel aufgehoben.« Sie zog plötzlich ein Binsennetz mit einem halben Dutzend schöner gelber Äpfel unter ihrem weiten schwarzen Umhang hervor. Sie war inzwischen in den Dienst des Gottkönigs aufgenommen worden und diente in seinem Tempel unter Kossil, aber sie war noch keine Priesterin und mußte noch immer Unterricht nehmen und Arbeiten mit den anderen Novizen zusammen verrichten. »Poppie und ich mußten dieses Jahr die Äpfel sortieren, und ich habe die allerbesten aufgehoben. Die guten trocknen sie ja immer – natürlich weil die sich am besten halten. Aber mir tut es immer leid um sie. Sind die nicht schön?«
Arha strich über die hellgoldene, seidige Haut der Äpfel und schaute auf die Ästchen, an denen sich noch ein paar braune Blätter festhielten. »Doch, die sind schön.«
»Iß doch einen!« sagte Penthe.
»Jetzt nicht. Iß du einen.«
Penthe suchte höflicherweise den kleinsten aus und verspeiste ihn mit weniger als zehn geschickten, saftigen, genußvollen Bissen.
»Ich könnte den ganzen Tag lang essen«, seufzte sie. »Ich werde nie satt. Ich wäre lieber Köchin als Priesterin geworden. Ich würde besser kochen als die knickerige Nabbath, und außerdem könnte ich dann die Töpfe auslecken … Oh, hast du gehört, was Munith passiert ist? Sie mußte die großen Messingbehälter glänzend reiben, weißt du, die Dinge, in denen sie das Rosenöl aufbewahren, die hohen, schmalen mit den Pfropfen oben drauf. Munith dachte, daß man die auch innen sauberreiben müsse, und steckte die Hand mit dem Lumpen hinein und hat sie nicht mehr herausgebracht. Sie hat alles mögliche versucht, aber ihr Gelenk wurde nur ganz rot und schwoll an. Sie war wirklich festgeklemmt. Und sie ist durch den ganzen Saal galoppiert und hat geschrien: ›Ich krieg’s nicht runter! Ich krieg’s nicht runter!‹ Und Punti hört ja nicht mehr gut, dachte, daß Feuer ausgebrochen sei, und brüllte nach den anderen Wärtern, daß sie kommen und die Novizen retten sollten. Uahto hatte gerade gemolken. Sie kam aus dem Stall gelaufen und ließ die Tür offenstehen, so daß alle Ziegen herausrannten und im Hof auf Punti und die anderen Wärter mit den kleinen Mädchen stießen, und Munith war ganz außer sich und schwang den Arm mit der Messingflasche am Ende herum, und alle rannten und schrien. Dann kam Kossil vom Tempel heruntergelaufen und fragte: ›Was ist los? Was ist los?‹«
Penthes rundes helles Gesicht verzog sich und nahm einen unwirschen, finsteren Ausdruck an, ganz anders als der Ausdruck, der gewöhnlich auf Kossils Gesicht lag, aber doch irgendwie an Kossil erinnernd, so daß Arha unbeherrscht losprustete mit erschrecktem Lachen.
»›Was ist los? Was geht hier
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