Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
verächtlichen Laut aus, aber sie war zufrieden. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Penthe glaubte nicht an Götter, aber sie hatte vor den namenlosen Mächten der Dunkelheit Angst – wie jede andere sterbliche Seele.
»Ich täte es nur, wenn du es wünschtest«, sagte Arha.
Sie schwiegen beide eine lange Weile.
»Du wirst immer mehr wie Thar«, sagte Penthe auf ihre weiche, träumerische Art. »Gott sei Dank wirst du nicht wie Kossil. Aber du bist so stark. Ich wollte, ich wäre auch so stark. Ich esse bloß gern …«
»Nimm noch einen!« sagte Arha überlegen und belustigt. Penthe nagte langsam und bedächtig ihren dritten Apfel bis aufs Kerngehäuse ab.
Die Anforderungen, die das endlose Ritual der Stätte an sie stellte, zwangen Arha ein paar Tage später aus ihrer Abgeschlossenheit hinaus. Zwillingsgeißlein waren außerhalb der regulären Zeit geboren worden und wurden, wie es die Sitte verlangte, den Zwillingsgöttern als Opfer dargebracht. Es war eine wichtige Zeremonie, bei der die Eine Priesterin nicht fehlen durfte. Dann kam die Nacht, in der der Mond nicht sichtbar war, und die Zeremonie der Dunkelheit mußte vor dem Leeren Thron abgehalten werden. Arha sog die betäubenden Düfte von Kräutern ein, die in großen Bronzeschalen vor dem Thron verbrannt wurden, und sie tanzte, in Schwarz gekleidet, allein vor dem Thron. Sie tanzte für die unsichtbaren Geister der Toten und der Ungeborenen, und während sie tanzte, drängten sich die Geister um sie, folgten den Drehungen und Wendungen ihrer Füße und den langsamen, sicheren Gesten ihrer Arme. Sie sang die Lieder, deren Worte kein Mensch mehr verstand, die sie vor langer Zeit Silbe für Silbe von Thar hatte lernen müssen. Ein Chor von Priesterinnen, der im düsteren Licht hinter der Doppelreihe von Säulen verborgen war, wiederholte wie ein Echo die seltsamen Worte, und die Luft in dem riesigen baufälligen Saal war erfüllt vom Gemurmel vieler Stimmen, so als ob die unzähligen Geister die Gesänge unaufhörlich wiederholten.
Der Gottkönig von Awabad sandte keine Gefangenen mehr zur Stätte, und Arha träumte immer seltener von den drei Männern im dunklen Verlies, die jetzt schon lange tot waren und in flachen Gräbern in dem Riesengewölbe unter den Steinen begraben lagen.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, um in diese Höhle zurückzukehren. Sie mußte zurückkehren: Die Priesterin der Gräber mußte in der Lage sein, ihr eigenes Reich ohne Furcht zu betreten; sie mußte sich auskennen.
Das erste Mal, als sie durch die Falltür stieg, fiel es ihr am schwersten; aber es war nicht ganz so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie hatte sich geistig so gut darauf vorbereitet, sie war so fest entschlossen, allein hinunterzusteigen und nicht die Beherrschung zu verlieren, daß sie, als es soweit war, fast ein wenig enttäuscht war, weil alles so leicht vor sich ging. Es gab dort Gräber, aber sie konnte sie nicht sehen, gar nichts konnte sie sehen. Es war ganz finster, es war totenstill. Und das war alles.
Tag für Tag ging sie dort hinunter, und immer betrat sie das unterirdische Reich durch die Falltür in dem Raum hinter dem Thron, bis sie den Umfang des Gewölbes mit den seltsam verzierten Wänden gut kannte – so gut man eben etwas kennen konnte, das man nicht sah. Sie blieb immer in Reichweite der Wände, denn in der Leere des Raumes hätte sie leicht die Richtung verlieren können, und wenn sie dann wieder eine Wand erreicht hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, festzustellen, wo sie war. Denn das hatte sie schon beim ersten Mal gelernt: Im Dunkeln zu wissen, welche Ecken und Öffnungen sie passiert hatte und welche noch vor ihr lagen, war das wichtigste. Und das konnte sie nur wissen, wenn sie zählte, denn unter den tastenden Händen fühlte sich alles gleich an. Arhas Gedächtnis war gut geschult, und es fiel ihr nicht schwer, ihren Weg auf diese seltsame Art zu finden – durch Tasten und Zählen anstatt durch Sehen und Erkennen. Bald kannte sie alle Gänge, die vom Untergrab ausgingen; auch die Irrgänge, die unter dem Thronsaal und dem Hügel lagen, kannte sie. Aber einen Gang betrat sie nie: den zweiten, der nach dem Eingang zwischen den roten Felsen kam, aus dem sie, wenn sie ihn aus Versehen beträte, vielleicht nie mehr herausfände. Aber ihr Verlangen, ihn zu betreten und das Labyrinth kennenzulernen, nahm ständig zu. Sie widerstand ihm jedoch, bis sie alles erfahren hatte, was darüber bekannt war.
Thar wußte wenig
Weitere Kostenlose Bücher