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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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darüber, sie kannte die Namen einiger Räume und auch die Anweisungen, wie man zu den Räumen gelangte. Diese sagte sie Arha auf, aber sie zeichnete nie ein Bild in den Staub oder machte eine Zeichnung in die Luft; sie selbst war diesen Anweisungen noch nie gefolgt, denn sie hatte das Labyrinth noch niemals betreten. Aber wenn Arha fragte: »Wie geht man von der offenstehenden, eisernen Tür in den Bemalten Raum?« oder »Welcher Weg führt vom Knochensaal zum Tunnel beim Fluß?«, dann schwieg Thar erst eine Weile und begann dann die seltsamen Anweisungen aufzusagen, die sie vor so langer Zeit von der Arha-Die-Gewesen-War gelernt hatte: soundso viele Kreuzungen passieren, soundso viele Wendungen nach links und so weiter und so weiter. All dies lernte Arha auswendig, oft beim ersten Mal, wie es Thar gelernt hatte. Wenn sie nachts in ihrem Bett lag, wiederholte sie das alles und versuchte, sich die verschiedenen Orte, die Räume und die Gänge vorzustellen.
    Thar zeigte Arha die vielen Gucklöcher, durch die man ins Labyrinth hinunterschauen konnte und die es in jedem Gebäude und Tempel der Stätte gab; selbst unter den Felsen draußen waren sie zu finden. Das Spinngewebe der unterirdischen Gänge zog sich überall unter der Stätte dahin und erstreckte sich sogar bis jenseits der Mauern. Die Gänge verliefen meilenweit in der Dunkelheit. Kein Mensch außer ihr, den zwei Hohenpriesterinnen und ihren eigensten Dienern, den Eunuchen Manan, Uahto und Duby, wußten überhaupt, daß es ein Labyrinth gab und unter jedem ihrer Schritte lag, den sie hier oben taten. Unter den anderen Bewohnern der Stätte gingen ungenaue Gerüchte um; alle wußten zwar, daß es Höhlen oder irgendwelche Gewölbe unter den Gräbern gab, aber niemand kümmerte sich sonderlich um Dinge, die mit den Namenlosen zusammenhingen, und um die Orte, die ihnen geweiht waren. Vielleicht hielten sie es für besser, wenig darüber zu wissen. Arha war natürlich sehr neugierig, und da sie wußte, daß es Gucklöcher in das Labyrinth gab, hatte sie nach ihnen gesucht, doch sie waren so gut verborgen, daß sie kein einziges gefunden hatte. Sie befanden sich zwischen den Steinplatten des Bodens, auf dem Wüstengrund, selbst in ihrem eigenen Haus, und sie fand es erst, nachdem Thar sie darauf aufmerksam gemacht hatte.
    In einer Nacht zu Beginn des Frühjahrs nahm sie eine Kerzenlaterne und ging hinunter, ohne sie anzuzünden. Sie ging durch das Untergrab bis zur zweiten Öffnung links am Gang, der von der Tür zwischen den roten Felsen aus hineinführte.
    Sie tat dreißig Schritte in die Dunkelheit hinein und trat dann durch eine Tür, deren Eisenrahmen sie in der Wand ertastete: Hier lag die Grenze ihrer bisherigen Expeditionen, weiter war sie noch nie gekommen. Jetzt trat sie durch die eiserne Tür in den Gang hinein, und als er allmählich nach rechts abbog, zündete sie ihre Kerze an und schaute sich um. Hier war es gestattet, Licht zu machen. Sie hatte das Untergrab verlassen. Sie befand sich jetzt an einem weniger heiligen, dafür um so fürchterlicheren Ort: Sie war im Labyrinth.
    Nackte rauhe Felswände wölbten sich über ihr und umgaben sie in dem kleinen Lichtkreis. Es roch nach Verwesung. Vor und hinter ihr sah sie die gähnende Schwärze des Ganges.
    Alle Gänge, die sie durchquerte und durchschritt, waren gleich. Sie paßte sorgfältig auf und zählte alle Biegungen und Öffnungen, während sie sich Thars Anweisungen laut vorsagte, obwohl sie diese genau kannte. Sie konnte es sich nicht leisten, sich hier zu verirren. Im Untergrab und in den kleinen Gängen ringsum würden Kossil, Thar oder auch Manan sie wiederfinden. Manan hatte sie ein paarmal mit hinuntergenommen. Aber hier war noch keiner vor ihr gewesen; sie war die einzige. Es würde ihr wenig nützen, wenn die anderen im Untergrab nach ihr rufen würden und sie eine halbe Meile weiter weg im Schneckengewinde irgendeines Gangs steckte. Sie stellte sich vor, wie sie das Echo ihrer Stimmen hörte, das die Gänge entlanghallte, wie sie versuchen würde, sie zu erreichen, aber völlig verloren würde sie sich nur noch weiter von ihnen entfernen. Sie konnte sich das alles so deutlich vorstellen, daß sie innehielt und sich einbildete, eine Stimme zu vernehmen, die nach ihr rief. Aber alles war still. Sie würde sich nicht verirren. Sie paßte scharf auf. Hier war ihr Reich, ihr eigenstes Gebiet. Die Mächte der Dunkelheit, die Namenlosen, würden ihre Schritte leiten, wie sie die Schritte jedes

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