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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Priesterin ebenfalls verschwinden lassen.
    Es dauerte eine geraume Zeit, aber schließlich war Arha soweit, daß sie all diese Vermutungen als gegeben hinnahm. Vielleicht hatte ihr Thar geholfen, dies zu erkennen, obwohl sie nie direkt darüber gesprochen hatte. Als ihre Krankheit noch im ersten Stadium war, hatte sie Arha gebeten, alle paar Tage zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Sie hatte ihr viel über den Gottkönig, seine Vorgänger und darüber erzählt, was in Awabad vor sich ging – Dinge, die sie als Hohepriesterin wissen mußte, die aber nicht immer schmeichelhaft für den Gottkönig und seinen Hof waren. Manchmal erzählte sie auch aus ihrem eigenen Leben und beschrieb, wie die vorherige Arha ausgesehen und was sie alles unternommen hatte. Manchmal – nicht oft – verweilte sie bei den Gefahren und Schwierigkeiten, die Arha in ihrem jetzigen Leben erwarten würden. Nie erwähnte sie Kossil mit Namen, aber Arha war elf Jahre lang Thars Schülerin gewesen, und ein Blick, ein Ton genügten, um den tieferen Sinn ihrer Worte zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten.
    Nachdem die bedrückenden Rituale der Trauer abgeschlossen waren, versuchte Arha, Kossil aus dem Weg zu gehen. Wenn die langen Arbeiten und Rituale des Tages vorbei waren, zog sich Arha in ihr Haus zurück, und wenn sie Zeit übrig hatte, betrat sie das Zimmer hinter dem Thron, öffnete die Falltür und stieg hinunter in die Dunkelheit. Es war gleich, ob draußen Tag oder Nacht herrschte, dort unten war es immer dunkel. Sie hatte damit begonnen, ihr unterirdisches Reich systematisch zu erforschen. Das Untergrab, das heiligste der Heiligtümer, war jedem verboten, nur Priesterinnen und ihre vertrautesten Eunuchen durften hier eintreten. Jeder andere, ob Mann oder Frau, würde vom Fluch der Namenlosen niedergeschmettert werden. Aber unter all den Regeln fand sie keine, die den Zutritt zum Labyrinth untersagte. Das war auch nicht nötig. Es konnte nur vom Untergrab aus betreten werden. Und außerdem – war es nötig, einer Fliege zu verbieten, ins Netz einer Spinne zu fliegen?
    Diese Überlegungen führten sie dazu, Manan öfter mit hinunter ins Labyrinth zu nehmen, damit er lerne, sich wenigstens in den näherliegenden Gängen auszukennen. Er hatte überhaupt keine Lust dazu, aber wie in allem, so gehorchte er ihr auch in diesem Fall. Sie vergewisserte sich auch, ob Duby und Uahto, Kossils Eunuchen, ebenfalls den Weg in den Kettenraum und den Weg aus dem Untergrab heraus kannten, aber mehr zeigte sie ihnen nicht. Sie wollte nicht, daß irgend jemand – außer Manan, der ihr treu ergeben war – die geheimen Gänge kannte. Denn die waren ihr Eigentum in alle Ewigkeit. Sie hatte mit der Gesamterforschung des Labyrinths begonnen. Den ganzen Herbst verbrachte sie damit, und so manchen Tag durchmaß sie diese endlosen Gänge, und noch immer stieß sie auf gewisse Abschnitte, die ihr neu und fremd waren. Es war ermüdend, dieses riesige, nutzlose Gewirr von Gängen zu erforschen; die Beine taten ihr weh, und ihr Geist langweilte sich von dem dauernden Zählen der Ecken und Durchgänge, die bereits hinter und noch vor ihr lagen. Es war im Grunde eine meisterhafte Anlage, die sich wie das Straßennetz einer großen Stadt durch das Felsgestein zog, aber es war so angelegt, daß es jeden Sterblichen ermüdete und verwirrte, und selbst die Priesterin gelangte am Ende zu der Erkenntnis, daß es nichts weiter war als eine Riesenfalle.
    Im Verlauf des Winters wandte sie sich daher immer mehr der Erforschung der Thronhalle zu, den Altären, den Nischen hinter und unter den Altären, den Zimmern voller Truhen und Kästen und dem Inhalt dieser Truhen und Kästen; sie erforschte die Flure und Speichergewölbe, das staubige Rund unter der Kuppel, in dem Hunderte von Fledermäusen hausten, die Kellergewölbe, die untereinanderlagen und ihr wie die Vorgemächer der Dunkelheit selbst erschienen.
    Hände und Ärmel von süßlich riechendem Moschus parfümiert, der acht Jahrhunderte lang in einer eisernen Truhe gelagert und zu Staub zerfallen war, die Stirn von dunklen Spinnweben umflort, die sich nicht wegwischen ließen, so kniete sie oft stundenlang und betrachtete die wunderbaren Schnitzereien an einer Truhe aus Zedernholz, die vor langer Zeit als Gabe für die Namenlosen von irgendeinem König hierhergebracht worden waren. Hier erkannte sie den König, eine steife kleine Gestalt mit einer großen Nase, und dort die Thronhalle mit der flachen Kuppel und dem

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