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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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einen Palast herbeizaubern können, wenigstens illusionsweise, und sich selbst in Bären, Fische, Drachen oder sonst etwas verwandeln können, habe ich auch gehört.«
    »All das glaube ich nicht«, sagte Kossil. »Daß sie gefährlich und verschlagen sind mit ihren Tricks, schlüpfrig wie Aale, ja, das glaube ich. Aber man sagt, daß sie – wenn man ihnen den hölzernen Stab wegnimmt – überhaupt keine Macht mehr besitzen. Wahrscheinlich haben sie unheilvolle Runen hineingeritzt.«
    Thar schüttelte wiederum den Kopf. »Stimmt, sie tragen einen Stab mit sich, aber das ist nur ein äußeres Zeichen der Macht, die sie innerlich besitzen.«
    »Aber wie bekommen sie diese Macht?« fragte Arha. »Woher stammt sie?«
    »Von Lügen.« Kossil sprach mit Überzeugung.
    »Von Worten«, sagte Thar. »Das hat mir einer erzählt, der einem großen Zauberer der Innenländer – sie nennen sie Magier – zugeschaut hat. Sie haben ihn im Westen gefangengenommen, als sie dort auf Beutezug waren. Er zeigte ihnen einen dürren Zweig und sprach ein Wort darüber. Und siehe da – der Zweig erblühte! Und dann sprach er ein anderes Wort, und siehe da – der Zweig trug reife Äpfel! Und dann sprach er noch ein Wort – und Stock, Blüten und Äpfel, alles verschwand, und der Zauberer dazu. Ein Wort nur hatte genügt, und er war verschwunden, wie ein Regenbogen verschwindet, wie ein Augenaufschlag vorübergeht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie haben ihn nie wieder auf dieser Insel gesehen. Nun, ist das nur Gaukelei?«
    »Es ist leicht, Narren zu narren«, erwiderte Kossil.
    Thar sagte nichts darauf, um keinen Streit aufkommen zu lassen, aber Arha ließ das Thema nur widerwillig fallen. »Wie sieht denn das Zaubervolk aus?« fragte sie. »Sind sie wirklich überall ganz schwarz, mit weißen Augen?«
    »Sie sind schwarz und verdorben. Ich habe noch keinen gesehen«, sagte Kossil mit Genugtuung, und sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Schemel und streckte die Hände gegen das Feuer.
    »Mögen die Zwillingsgötter sie fernhalten«, murmelte Thar.
    »Sie werden nie wieder hierherkommen«, sagte Kossil, und das Feuer prasselte vor ihnen, und der Regen trommelte auf dem Dach, und draußen auf dem düsteren Flur schrie Manan mit schriller Stimme: »Aha! Ich bekomme die Hälfte! Die Hälfte!«

Licht unter dem Hügel
    ALS DAS JAHR SICH SEINEM ENDE ZUNEIGTE, starb Thar. Im Sommer hatte sie über eine Schwäche geklagt, die nicht weichen wollte und an ihrer Gesundheit zehrte. Sie, die stets hager gewesen war, magerte nun zum Skelett ab; sie, die früher verschlossen gewesen war, redete nun überhaupt nicht mehr. Nur mit Arha sprach sie noch gelegentlich, wenn sie allein miteinander waren, und dann hörte selbst das auf, und schweigend ging sie in das Land der ewigen Dunkelheit ein. Als sie für immer gegangen war, merkte Arha, wie sehr sie ihr fehlte. Wohl war sie streng gewesen, aber weh getan hatte sie niemandem. Sie hatte sich bemüht, in Arha Stolz zu erwecken, und ließ keine Furcht aufkommen.
    Jetzt war nur noch Kossil übrig.
    Im Frühling sollte eine neue Hohepriesterin aus Awabad in den Tempel der Zwillingsgötter kommen; bis dahin teilten sich Kossil und Arha in die Leitung und Verwaltung der Stätte. Die Frauen nannten das Mädchen ›Herrin‹ und führten aus, was Arha befahl. Doch Arha lernte bald, Kossil keine Anweisungen zu erteilen. Zwar hatte sie das Recht dazu, doch fehlte ihr die Macht. Viel Stärke wäre nötig gewesen, um Kossil herumzukommandieren, denn sie war neidisch auf jeden, der höher stand als sie, und sie haßte alles, was sie nicht unter ihrer Fuchtel hatte.
    Seit Arha (von der sanften Penthe) gelernt hatte, daß Unglauben existiert, und seitdem sie es als Möglichkeit gebilligt hatte – obwohl sie dies tief beunruhigte –, sah sie Kossil in einem neuen Licht und verstand sie besser. Kossil huldigte den Namenlosen und den Göttern nicht aus voller innerer Überzeugung. Nur Macht war ihr heilig, sonst nichts. Die Herrscher des Kargadreiches hielten diese Macht in ihren Händen und waren deshalb in Kossils Augen wahre Gottkönige und ihres, Kossils, Dienstes gewiß. Die Tempel jedoch waren für sie nichts als Äußerlichkeiten, die Grabsteine bloße Felsen und die Gräber von Atuan nichts als Löcher im Boden, die zwar furchterregend, doch sonst leer waren. Hätte es in ihrer Macht gelegen, so hätte sie die Verehrung des Leeren Thrones abgeschafft. Und wenn sie gekonnt hätte, so hätte sie die Erste

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