Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
befand, mußte sie das große Gewölbe unter den Gräbern durchqueren. Als sie sich ihm näherte, den abfallenden Gang entlang schreitend, sah sie ein schwaches Grau, die zaghafte Andeutung – das Echo eines Echos – eines fernen Lichtes.
Sie glaubte anfangs, daß ihre Augen sie narrten, wie sie es öfter in der absoluten Dunkelheit taten. Sie schloß sie, und das schwache Licht verschwand. Sie öffnete sie, und es war wieder da.
Sie hielt inne und blieb stehen. Gräue, nicht Schwärze umgab sie. Ein feiner Schimmer, kaum wahrnehmbar, dort, wo nichts wahrnehmbar hätte sein dürfen, wo eigentlich alles schwarz sein mußte.
Sie tat ein paar Schritte vorwärts und griff mit der Hand in die Ecke des unterirdischen Gangs – und ganz undeutlich sah sie die Bewegung ihrer eigenen Hand.
Sie ging weiter. Dies war so unglaublich, so undenkbar, daß es die Furcht erstickte – dieses schwächste aller Lichter dort, wohin noch nie ein Lichtstrahl gefallen war, im innersten Grab der Dunkelheit. Bei der letzten Krümmung des Gangs hielt sie inne, dann, ganz langsam, tat Arhe den letzten Schritt und schaute, und sah …
… sah das, was sie noch nie gesehen hatte, noch nie, obgleich sie schon während Hunderter von Leben hier gewesen war: die geschwungene große Höhlung unterhalb der Gräber, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern von den Mächten dieser Erde selbst. Der Raum war mit Juwelen aus Kristall bedeckt und mit Spitzen geschmückt, ein Filigran aus silberweißem Kalkstein, geschaffen von den Wassern, die seit Äonen hier gewirkt hatten – riesig, mit glitzerndem Dach und Wänden, schimmernd, zerbrechlich, verschlungen, ein Palast aus Diamanten, ein Haus aus Amethyst und Kristall, aus dem die uralte, ewig lastende Dunkelheit von der überwältigenden Pracht vertrieben worden war.
Nicht hell war dieses Licht, doch überwältigend für das an Dunkelheit gewöhnte Auge. Es war ein sanftes Leuchten, wie ein Licht über dem Moor, das sich langsam über das Gewölbe bewegte und in tausend glitzernden Funken an dem juwelengeschmückten Dach entlangsprühte, das tausend phantastische Schatten an die gemeißelten Wände warf.
Das Licht brannte am Ende eines hölzernen Stabes, ohne zu rauchen, ohne etwas zu verzehren. Der Stab wurde von einer Menschenhand gehalten. Arha sah ein Gesicht neben dem Licht, ein dunkles Gesicht: das Gesicht eines Mannes.
Sie rührte sich nicht.
Wiederholt durchquerte er das riesige Gewölbe. Er bewegte sich so, als ob er etwas suche, schaute hinter die spitzenverzierten steinernen Wasserfälle und betrachtete die verschiedenen Pfade, die aus dem Untergrab hinausführten, doch er betrat sie nicht. Noch immer stand die Priesterin der Gräber in dem schwarzen Schatten des Gangs, wartend, ohne sich zu rühren.
Am unglaublichsten war für sie möglicherweise die Tatsache, daß sie einen Fremden vor sich sah. Sie hatte sehr wenige Fremde in ihrem Leben gesehen. Sie vermutete, daß er ein Wächter war – nein, wahrscheinlich war er einer der Männer von jenseits der Mauer, ein Ziegenhirte oder einer der Posten, ein Sklave der Stätte, und er war gekommen, um die Geheimnisse der Namenlosen auszukundschaften, vielleicht um etwas aus den Gräbern zu stehlen.
… um etwas zu stehlen; um die Dunklen Mächte zu berauben; die Stätte zu entweihen, ein Sakrileg zu begehen. Sakrileg – das Wort nahm allmählich Form an in Arhas Gehirn. Dies war ein Mann, und keines Mannes Fuß durfte den Boden der Gräber berühren, diesen geheiligten Ort. Und doch war er hierhergekommen in diesen ausgehöhlten Raum, hierher, in das Herz der Gräberstätte. Er hatte es betreten. Er hatte Licht angezündet, hier, wo es verboten war, Licht zu machen, wo seit Beginn der Welt nie Licht geschienen hatte. Warum blieben die Namenlosen stumm, warum zermalmten, zerschmetterten sie ihn nicht auf der Stelle?
Er war stehengeblieben und schaute auf den felsigen Boden zu seinen Füßen, der aufgebrochen und umgeschichtet worden war. Hier war gegraben und wieder zugeschüttet worden. Die sauer riechenden, unfruchtbaren Erdschollen, die man für das Grab aufgeworfen hatte, waren nicht alle wieder festgestampft worden.
Ihre Gebieter hatten jene drei verzehrt. Warum verzehrten sie diesen nicht auch? Worauf warteten sie?
Ihren Händen oblag es zu handeln, ihrer Zunge oblag es zu reden …
»Geh! Geh! Verschwinde!« schrie sie plötzlich, von Erregung gepackt. Mächtige Echos dröhnten und rollten durch das Gewölbe, schienen
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