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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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oder Sklaven von den weniger bekannten Tempeln in den vier Landen angefordert, oder ein paar Leute kamen und brachten Gold oder seltene Spezereien als Gabe für einen der Tempel. Sonst kam niemand. Nie kam jemand aus Zufall hierher, zur Besichtigung oder um etwas zu kaufen und zu verkaufen oder um zu stehlen. Leute kamen nur auf Bestellung hierher. Arha wußte nicht einmal, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, ob es zehn Meilen waren oder mehr; und die nächste Stadt war zudem noch klein. Die Verteidigung und Bewachung der Stätte bestand in ihrer geographischen Lage, in ihrer Isolation, in ihrer Leere. Sollte irgend jemand versuchen, ungesehen die Wüste zu durchqueren, die sie ringsum umgab, so waren seine Aussichten, nicht gesehen zu werden, ungefähr so groß wie die eines schwarzen Schafes, das sich auf ein Schneefeld wagt.
    Arha war mit Thar und Kossil zusammen, was immer häufiger geschah, wenn sie sich nicht im Kleinhaus oder unter dem Hügel aufhielt. Es war ein kalter Aprilabend, draußen stürmte es. Sie saßen in Kossils Zimmer, einem kleinen Raum hinter dem Tempel des Gottkönigs, um ein winziges Feuer aus getrocknetem Salbeikraut herum. Im Gang vor der Tür saßen Manan und Duby und spielten ein Spiel mit Stäben und Spielmarken, bei dem man ein Bündel Stäbe hochwirft und versucht, so viele Stäbe wie möglich mit dem Handrücken aufzufangen. Manan und Arha spielten es ab und zu heimlich, wenn sie sich allein im Innenhof des Kleinhauses befanden. Das Rascheln der Stäbe, das Murmeln der Stimmen, die Triumph oder Enttäuschung ausdrückten, und das leise Prasseln des Feuers waren die einzigen Geräusche, die zu hören waren, wenn die drei Priesterinnen schwiegen. Die tiefe Stille der Wüstennacht lag überall außerhalb der Mauern. Böige Winde brachten hin und wieder kurze, heftige Regenschauer.
    »Viele haben versucht, die Gräber auszurauben«, sagte Thar. »Aber das ist schon lange her, und es ist keinem gelungen.« Obwohl von Natur aus schweigsam, so war sie doch gelegentlich bereit, eine Geschichte zu erzählen, besonders wenn sie diese mit einer Belehrung für Arha verknüpfen konnte. An jenem Abend sah es so aus, als wolle sie eine Geschichte zum besten geben.
    »Wie konnten sie es wagen?«
    »Sie haben es gewagt«, sagte Kossil. »Hexenmeister, Zauberer der Innenländer waren es. Das trug sich zu, noch bevor der Gottkönig über das Kargadreich herrschte, damals waren wir noch nicht so mächtig. Die Zauberer kamen vom Westen nach Karego-At und Atuan gesegelt, plünderten die Städte an der Küste und verwüsteten die Bauernhöfe, selbst bis in die heilige Stadt Awabad sind sie vorgedrungen. Sie behaupteten, daß sie nur gekommen seien, um Drachen zu töten, aber in Wirklichkeit blieben sie hier, um Städte und Tempel auszuplündern.«
    »Und ihre großen Helden kamen zu uns, um die Schärfe ihrer Schwerter zu erproben«, fuhr Thar fort, »und um ihre ruchlosen Zaubersprüche zu wirken. Einer von ihnen, ein noch mächtigerer Zauberer und Drachenfürst, der größte unter ihnen, ließ hier sein Leben. Das trug sich vor langer, langer Zeit zu, aber die Geschichte lebt weiter – und nicht nur hier. Der Name des Zauberers war Erreth-Akbe, und er war ein König und ein Zauberer des Westens. Er kam hierher, und in Awabad verbündete er sich mit einigen rebellierenden Fürsten des Landes, und dann kam es zu einem Kampf mit dem Hohenpriester des höchsten Tempels der Zwillingsgötter. Sie haben lange miteinander gekämpft, Zauberkraft gegen Götterblitze, und der ganze Tempel und vieles ringsum wurde zerstört. Aber endlich zerbrach der Hohepriester den Zauberstab von Erreth-Akbe und das Amulett, das ihm Macht verlieh, und damit hatte er ihn besiegt. Aber er entfloh aus der Stadt und aus Kargad und flüchtete über die Erdsee, bis er in den fernen Westen kam; dort wurde er von einem Drachen getötet, denn seine Macht war dahin. Von diesem Tag an nehmen die Macht und die Stärke der Innenländer ständig ab. Der Hohepriester hieß Intathin, er war der erste aus dem Hause Tarb, das in Erfüllung der Prophezeiungen und nach Ablauf der Jahrhunderte die Priesterkönige von Karego-At hervorbrachte, von denen die Gottkönige des Kargadreiches abstammen. Man kann also sagen, daß seit Intathin die Größe und Macht des Kargadreiches gewachsen sind. Jene, die kamen, um die Gräber zu plündern, das waren Zauberer, die immer und immer wieder versuchten, das zerbrochene Amulett von Erreth-Akbe

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