Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
zurückzugewinnen. Aber es ist noch immer hier, wohin es vom Hohenpriester zur Aufbewahrung und zur Sicherheit gebracht wurde. Und ihre Gebeine sind auch noch da …« Thar deutete auf den Boden zu ihren Füßen.
»Die Hälfte davon«, sagte Kossil.
»Und die andere Hälfte ist für immer verschollen.«
»Wieso verschollen?« fragte Arha.
»Die eine Hälfte, die in Intathins Hand war, wurde dem Schatzmeister der Gräber übergeben, damit er sie auf alle Ewigkeit sicher hier aufbewahre. Die andere Hälfte behielt der Zauberer in seiner Hand, aber bevor er floh, gab er sie einem der kleineren Könige, der auch zu den Rebellen gehört hatte, einem gewissen Thoreg von Hupun. Ich weiß nicht, warum er das tat.«
»Um Streit zu provozieren, um Thoreg hoffärtig zu machen«, sagte Kossil. »Und das hat er auch erreicht. Die Nachkommen von Thoreg haben erneut rebelliert, als das Haus der Tarb an die Regierung kam. Sie griffen wieder zu ihren Waffen gegen den ersten Gottkönig und weigerten sich, ihm den Treueeid zu leisten und ihn als König oder Gott anzuerkennen. Das war ein verfluchtes, verzaubertes Geschlecht! Aber jetzt sind sie alle tot.«
Thar nickte. »Der Vater unseres jetzigen Gottkönigs, der Herrscher-der-wiedererstanden-ist, hat das ganze Geschlecht der Hupun ausgerottet und ihren Besitz zerstört. Seitdem dies vollbracht wurde, ist die andere Hälfte des Amuletts verschwunden, die seit den Tagen von Erreth-Akbe und Intathin in der Familie Hupun war. Niemand weiß, wohin. Und all das trug sich vor einer Generation zu.«
»Es wurde bestimmt als Kehricht weggeworfen«, vermutete Kossil. »Man sagt, daß der Ring von Erreth-Akbe nach nichts aussieht; man erkennt seinen Wert überhaupt nicht. Der verwünschte Ring und das verruchte Zaubervolk!« Kossil spuckte angewidert ins Feuer.
»Haben Sie die Hälfte gesehen, die wir hier haben?« Arha wandte sich fragend an Thar.
Die hagere Frau schüttelte den Kopf. »Sie befindet sich in dem Schatz, den niemand außer der Einen Priesterin sehen darf. Es ist gut möglich, daß dies der größte aller vorhandenen Schätze ist. Ich bin nicht sicher, aber ich vermute es fast. Seit Hunderten von Jahren werden Diebe und Zauberer von den Innenländern hierhergeschickt, damit sie die Ringhälfte stehlen, und die gingen an offenen Truhen voll Gold und Juwelen vorbei, ohne etwas anzurühren, nur dieses eine Ding suchten sie. Es ist jetzt schon lange her, seit Erreth-Akbe und Intathin gelebt haben, doch die Geschichte lebt weiter und wird heute noch erzählt, sowohl hier als auch im Westen. Die meisten Dinge werden alt im Verlauf der Jahre, und man hört nichts mehr von ihnen. Nur ganz wenige Dinge behalten ihren Wert, und nur ganz wenige Geschichten werden immer wieder erzählt.«
Arha grübelte eine Weile vor sich hin, dann sagte sie: »Das müssen entweder sehr mutige oder sehr dumme Männer gewesen sein, die sich in die Gräber gewagt haben. Wissen die denn nichts von der Macht der Namenlosen?«
»Nein«, erwiderte Kossil kalt. »Die haben keine Götter. Und sie achten die Götter nicht. Sie können Zauberei wirken und halten sich selbst für Götter. Aber sie sind keine Götter. Und wenn sie sterben, dann werden sie nicht wiedergeboren. Sie zerfallen zu Asche und Knochen, und ihr Geist heult ein bißchen im Wind, bevor er fortgeblasen wird. Sie haben keine unsterbliche Seele.«
»Aber welche Magie wirken sie dann?« fragte Arha voller Wißbegierde. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre eigenen, vor einigen Jahren geäußerten Worte, daß sie sich abwenden und weigern würde, Schiffen aus den Innenländern nachzuschauen. »Wie bewerkstelligen sie das? Was können sie tun?«
»Trickspielereien, Vorspiegelungen, Gaukeleien.« Kossil zuckte verächtlich die Achseln.
»Es muß schon etwas mehr sein, wenn die Geschichten nur halbwegs wahr sind«, sagte Thar. »Die Zauberer im Westen können Wind erzeugen und ihn wieder stillen, und sie lassen ihn in jeder Richtung blasen. Das sagen alle, und alle stimmen darin überein. Deswegen sind sie auch so ausgezeichnete Seefahrer, denn sie können einen magischen Wind in ihre Segel zaubern, jedes gewünschte Ziel ansteuern, und den Stürmen des Meeres können sie trotzen und ihnen gebieten, ruhig zu sein. Und man erzählt sich, daß sie Licht herbeibringen können, und auch Dunkelheit können sie herbeizaubern, und Steine können sie in Diamanten verwandeln und aus Blei Gold machen; daß sie im Handumdrehen eine ganze Stadt oder
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