Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
das erschrockene dunkle Gesicht zu verwischen, das sich ihr zugewandt hatte und das sie einen Augenblick lang über die aufgestörte Pracht der Höhlung hinweg wahrnahm. Dann erlosch das Licht. Die Pracht war verschwunden. Dunkelheit und Stille kehrten zurück.
Jetzt konnte sie wieder denken. Der Bann, durch das Licht auferlegt, war gebrochen.
Er mußte durch die Tür zwischen den roten Felsen, durch die Gefangenentür, hereingekommen sein, und er würde versuchen, durch dieselbe Tür zu entfliehen. Behende und lautlos wie eine leichtbeflügelte Eule eilte sie den Halbkreis des Gewölbes entlang zu dem niedrigen Gang und weiter zu der Tür, die sich nur nach innen öffnen ließ. Sie spürte keinen Luftzug, der von außen hereindrang. Er hatte die Tür hinter sich nicht offenstehen lassen; sie war geschlossen, und wenn er sich im Gang befand, dann war er gefangen.
Aber er war nicht im Gang; dessen war sie sich gewiß. Es war hier so eng, daß sie seinen Atem vernommen, daß sie die Wärme, den Puls seines Lebens gespürt hätte. Niemand war hier. Sie richtete sich voll auf und lauschte. Wo war er?
Die Dunkelheit legte sich ihr wie eine Binde über die Augen. Der Anblick des Untergrabes hatte sie verstört, sie war verwirrt. Sie kannte das Gewölbe nur durchs Gehör, durch den Tastsinn, durch die schwachen Luftströmungen des Riesenraumes, der ein Geheimnis war und dem Auge für immer verschlossen bleiben sollte. Und sie hatte ihn gesehen! Das Geheimnis war gelüftet, und kein Entsetzen offenbarte sich ihr, sondern eine überwältigende Schönheit, ein Geheimnis, das tiefer war als die Dunkelheit selbst.
Langsam bewegte sie sich vorwärts, sie war unsicher, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie tastete nach links und suchte den zweiten Eingang, den Gang, der ins Labyrinth führte. Hier blieb sie stehen und lauschte.
Das Gehör verriet ihr nicht mehr als die Augen. Aber als sie regungslos dastand, mit ausgestreckten Händen den Eingang links und rechts berührte, da fühlte sie ein schwaches, fast unmerkliches Vibrieren im Fels, und die verbrauchte kalte Luft enthielt etwas Fremdes, das nicht hierhergehörte: den Geruch von wildem Salbei, der auf den Hügeln der Wüste wuchs, über ihr, unter dem freien, offenen Himmel.
Langsam und lautlos schlich sie vorwärts, dem Geruchssinn folgend.
Nach ungefähr hundert Schritten hörte sie ihn. Er war fast so lautlos wie sie, aber er bewegte sich nicht so sicher in der Dunkelheit, mit der sie vertraut war. Sie hörte ein ganz schwaches Schürfen, so als ob er sich an dem unebenen Boden gestoßen und sofort wieder gefangen hätte. Sonst vernahm sie nichts. Sie wartete eine Weile, dann ging sie langsam weiter, während sie mit den rechten Fingerspitzen leicht die Wand berührte. Endlich spürte sie den gerundeten Metallstreifen unter den Füßen. Hier hielt sie inne und tastete den Metallstreifen hoch, streckte sich, so weit sie konnte, bis sie einen Griff zu fassen bekam, der aus dem Metall herausragte. Diesen hielt sie fest und zog ihn, plötzlich, mit ihrer ganzen Kraft nach unten.
Ein furchtbares Rasseln ertönte, dann ein dumpfer Schlag. Blaue Funken fielen um sie nieder. Echos verhallten im Gang hinter ihr. Sie streckte die Hände aus und fühlte, einen Fingerbreit von ihrem Gesicht entfernt, die beschlagene Oberfläche einer eisernen Tür.
Sie atmete tief aus.
Langsam folgte sie dem Gang, der zum Untergrab führte, und während sie sich rechts hielt, kehrte sie zur Falltür hinter dem Thronsaal zurück. Sie beeilte sich nicht und ging leise, obwohl es nicht mehr nötig war, still zu sein. Sie hatte ihren Dieb gefangen. Die Tür, durch die er geschritten war, führte als einzige ins Labyrinth hinein und heraus. Und konnte nur von außen geöffnet werden.
Jetzt steckte er dort unten, in der Dunkelheit unter der Erde, und er würde nie mehr freikommen.
Aufrecht und gelassen schritt sie am Thron vorbei und die säulenflankierte lange Halle hinunter. Dort, wo sich auf einem hohen Dreifuß eine Bronzeschale voll glühender Kohlen befand, wandte sie sich um und näherte sich den sieben Stufen, die zum Thron hinaufführten.
Auf der niedersten Stufe kniete sie nieder und berührte mit der Stirn den kalten, staubigen Stein, der von Mäuseknochen übersät war, die die Eulen hatten fallen lassen.
»Vergebt mir, daß ich Zeuge wurde, wie Eure Dunkelheit zerstört wurde«, flehte sie, ohne die Worte laut zu sprechen. »Vergebt mir, daß ich Zeuge wurde, wie Eure
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