Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
Gräber geschändet wurden. Ihr werdet gerächt werden. Oh, meine Gebieter, der Tod wird ihn Euch übergeben, und er wird niemals wiedergeboren!«
Doch noch während sie betete, sah sie vor ihrem geistigen Auge den herrlich schimmernden Glanz des leuchtenden Gewölbes, sah Leben an der Stätte des Todes, und statt Furcht wegen der Schändung und Zorn gegen den Verbrecher zu verspüren, mußte sie immer wieder daran denken, wie seltsam es war, wie seltsam …
Was soll ich nun Kossil sagen? fragte sie sich, als sie in den Wintersturm hinaustrat und ihren Umhang fester um die Schultern zog. Nichts. Noch nichts. Ich bin die Herrin des Labyrinths. Das geht den Gottkönig nichts an. Vielleicht werde ich es ihr erzählen, wenn der Dieb tot ist. Wie werde ich ihn töten? Ich sollte Kossil mitbringen und zuschauen lassen, wie er stirbt. Sie hat den Tod ja gern. Was hat er nur gesucht? Er muß wahnsinnig sein. Wie kam er nur hinein? Kossil und ich sind die einzigen, die einen Schlüssel für die Tür zwischen den roten Felsen und für die Falltür besitzen. Er muß aber durch die Felsentür gekommen sein. Nur ein Hexenmeister kann die öffnen. Ein Hexenmeister …?
Sie erstarrte, obwohl der Wind sie fast umriß.
»Er ist ein Hexenmeister, ein Zauberer aus den Innenländern, der das Amulett von Erreth-Akbe sucht.«
Und dieser Gedanke war von solch einer unheimlichen Faszination, daß ihr trotz des eisigen Windes ganz warm wurde und sie laut auflachte. Die Stätte und die Wüste, die sie umgab, waren schwarz und still; der Wind heulte; kein Licht brannte im Großhaus; feiner, fast unsichtbarer Schnee trieb an ihr vorbei.
»Wenn er die rote Felsentür aufgemacht hat, dann kann er auch andere Türen öffnen. Er kann entfliehen.«
Der Gedanke rieselte ihr kalt durch die Glieder, aber er überzeugte sie nicht. Die Namenlosen hatten ihn eintreten lassen. Warum auch nicht? Er konnte kein Unheil anrichten. Welche Gefahr stellte ein Dieb dar, der die Stätte seines Verbrechens nicht verlassen konnte? Gewiß, er besaß die Macht, Zauber und Schwarze Magie zu wirken, und groß mußte seine Macht sein, denn er war weit gekommen. Aber weiter kam er nicht. Keine Zauberei eines Sterblichen konnte sich mit denn Willen der Namenlosen messen, mit denen, die in den Gräbern gegenwärtig waren, mit den Herrschern, deren Thron leerstand.
Um sich dessen zu vergewissern, eilte sie zum Kleinhaus hinunter. Manan war eingeschlafen. Er hatte sich in seinen Umhang und in die alte Pelzdecke gehüllt, die ihm als Winterbett diente. Sie trat leise ein, um ihn nicht aufzuwecken, und zündete keine Lampe an. Sie öffnete einen verschlossenen kleinen Raum, nicht viel größer als ein Schrank, am Ende des Flurs. Dort schlug sie einen Funken, gerade lang genug, um eine gewisse Stelle am Boden zu finden, und kniend löste sie eine Kachel vom Boden. Ein Stückchen grobes, schmutziges Gewebe, nur ein paar Zentimeter groß, lag unter ihren Fingern. Das schob sie lautlos zur Seite. Sie fuhr zurück, denn ein Lichtstrahl drang herauf, fiel ihr direkt ins Gesicht.
Sie faßte sich und schaute ganz vorsichtig durch die Öffnung. Sie hatte vergessen, daß der Eindringling dieses seltsame Licht am Ende seines Stabes hatte. Sie hatte lediglich erwartet, ihn dort unten in der Dunkelheit zu hören. Das Licht hatte sie vergessen, aber er stand dort, wo sie ihn erwartet hatte: unmittelbar unter dem Guckloch, an der Eisentür, die den Ausgang aus dem Labyrinth versperrte.
Da stand er, eine Hand leicht in die Hüfte gestemmt; mit der anderen, die er von sich weggestreckt hatte, hielt er den hölzernen Stab, der so groß wie er selbst war und an dessen Spitze dieses magische Lichtlein schwebte. Sein Kopf, auf den sie aus zwei Metern Höhe hinabschaute, war etwas zur Seite geneigt. Seine Kleidung war nicht anderes als die eines Winterreisenden oder Pilgers, ein kurzer, wärmender Umhang, ein Lederwams, Strümpfe aus Wolle und geschnürte Sandalen. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Ranzen, an dem eine Wasserflasche baumelte, an der Seite ein Messer, das in einer Scheide steckte. Er stand regungslos da, wie eine Statue, aber entspannt und nachdenklich.
Langsam hob er seinen Stab und hielt das helle Ende gegen die Tür, die Arha von ihrem Guckloch aus nicht sehen konnte. Das Licht veränderte sich, wurde kleiner und erstrahlte in durchdringender Helligkeit. Die Sprache, die sie vernahm, kam Arha seltsam vor, doch noch seltsamer berührte sie die tiefe, wohlklingende
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