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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Stimme.
    Das Licht am Stab veränderte sich wieder, flackerte und wurde schwächer. Im nächsten Augenblick war es erloschen, und sie konnte ihn nicht mehr sehen.
    Jetzt erschien wieder das schwache, violette, gleichmäßige Moorlicht, und sie sah, wie er sich von der Tür abwandte. Sein Öffnungszauber hatte versagt. Die Mächte, die das Schloß dieser Tür festhielten, waren stärker als alle Magie, über die er verfügte.
    Er schaute sich um und schien zu denken: Was nun?
    Der Gang oder Flur, in dem er stand, war ungefähr eineinhalb Meter breit. Die Decke befand sich ungefähr vier bis fünf Meter hoch über dem Boden. Die Wände waren aus behauenem Stein, aber ohne Zement gefügt, doch so sorgfältig und dicht gelegt, daß kaum eine Messerspitze in den Fugen Platz fand. Die Steine traten, je höher die Wand sich erstreckte, immer weiter heraus und formten einen Rundbogen.
    Sonst war nichts zu sehen.
    Er bewegte sich vorwärts. Mit einem Schritt war er bereits aus Arhas Blickfeld entschwunden. Das Licht verlor sich. Sie war gerade im Begriff, das Gewebe zurückzuziehen und die Kachel an ihren Platz zu rücken, als der gedämpfte Lichtstrahl wieder herauffiel. Er war zur Tür zurückgekehrt. Vielleicht war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß er die Tür, wenn er sich ins Labyrinth begäbe, wohl schwerlich wieder erreichen würde.
    Er sprach nur ein einziges Wort, und seine Stimme klang gedämpft, »Emenn«, sagte er, dann noch einmal, lauter: »Emenn!« Die eiserne Tür schüttelte sich knirschend in ihren Angeln, und dunkle Echos hallten den rundgewölbten Gang hinunter wie Donner. Es kam Arha vor, als zittere der Boden unter ihren Füßen.
    Aber die Tür blieb verschlossen.
    Er lachte kurz auf, wie ein Mann, der denkt: Wie konnte ich nur so dumm sein! Er schaute sich noch einmal um, und als er aufblickte, entdeckte Arha ein Lächeln auf dem dunklen Gesicht. Dann setzte er sich auf den Boden, nahm seinen Ranzen ab, holte ein Stück trockenes Brot heraus und aß. Er öffnete seine Wasserflasche aus Leder und schüttelte sie. Sie sah leicht aus in seiner Hand, so als ob sie nahezu leer sei. Er verschloß sie wieder, ohne zu trinken. Er legte den Ranzen hinter sich nieder. Den Stab hielt er in der rechten Hand. Als er sich hinlegte, löste sich das Flämmchen von seinem Stab, schwebte hoch und hing als ein schwach leuchtender Lichtball hinter seinem Kopf, etwa einen halben Meter über dem Boden. Seine linke Hand lag auf der Brust und hielt einen Gegenstand fest, der ihm an einer schweren Kette um den Hals hing. Er lag ganz entspannt da, die Füße waren verschränkt. Sein Blick glitt am Guckloch vorbei. Er seufzte und schloß die Augen. Das Licht wurde schwächer. Er schlief ein.
    Die geballte Hand auf seiner Brust entspannte sich und fiel herunter. Die Beobachterin am Guckloch sah den Talisman, den er an der Kette trug: ein einfaches kleines Metallstück, das aussah, als sei es halbrund geformt.
    Das Glühlicht wurde schwächer und erlosch. Er lag in der Stille und Dunkelheit.
    Arha zog das Gewebe über das Loch zurück und paßte die Kachel wieder ein, erhob sich vorsichtig und schlüpfte in ihr Zimmer. Dort lag sie lange wach und lauschte in die vom Brausen des Windes erfüllte Dunkelheit hinein. Immer wieder trat der strahlende Glanz des kristallenen Gewölbes, das sie im Haus des Todes gesehen hatte, vor ihre Augen, das gedämpfte Licht, das nichts verbrannte, die Steine, die die Wand des Ganges bildeten, und das friedliche Gesicht des schlafenden jungen Mannes.

Die Menschenfalle
    AM NÄCHSTEN TAG , nachdem sie ihren Pflichten in den verschiedenen Tempeln nachgekommen war und die Novizen in den heiligen Tänzen unterrichtet hatte, schlüpfte Arha hinüber ins Kleinhaus, verdunkelte den Raum und spähte durch das Guckloch hinunter in den unterirdischen Gang. Kein Licht war zu sehen. Er war nicht mehr da. Sie hatte auch nicht erwartet, daß er so lange an der verschlossenen Tür verweilen würde, aber es war der einzige Ort, an dem sie nach ihm Ausschau halten konnte. Wie konnte sie ihn jetzt finden, nachdem er sich selbst verloren hatte?
    Die Gänge des Labyrinths zogen sich, ihrer eigenen Erfahrung und Thars Berechnungen nach, in allen ihren Windungen, Abzweigungen, Krümmungen, Spiralen und Sackgassen über eine Strecke von mehr als zwanzig Meilen dahin. Die am weitesten von den Gräbern entfernte Sackgasse lag, in direkter Linie gemessen, bestimmt nicht weiter als eine Meile entfernt. Aber kein Gang verlief

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