Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan
gerade dort unten. Alle Gänge wanden, verbanden, trennten, verzweigten sich und verliefen in verschnörkelten Bahnen, die dort endeten, wo sie begonnen hatten. Einen richtigen Anfang und ein richtiges Ende gab es nicht. Man konnte dort unten umhergehen, immer weiter gehen und kam doch nirgendwo hin, denn es gab kein Ziel, das man erreichen konnte. Das Labyrinth hatte keinen Mittelpunkt, kein Herz. Und wenn die Tür geschlossen war, dann gab es kein Ende mehr. Keine Richtung war richtig.
Obwohl sie die Wege und Windungen zu den verschiedenen Räumen und Abschnitten fest im Gedächtnis hatte, hatte sie doch immer, wenn sie zu einem größeren Erkundungsgang aufbrach, einen Knäuel feinen Garns mitgenommen, das sich hinter ihr abspulte und den sie bei der Rückkehr wieder zu einem Knäuel wickelte. Denn sie brauchte nur zu vergessen, einen der Durchgänge oder eine Ecke zu zählen, dann wäre sie selbst verloren gewesen. Ein Licht nützte nichts, denn es gab keine Anhaltspunkte dort unten. Alle Gänge, alle Durchgänge, alle Türen sahen gleich aus.
Er konnte bereits meilenweit gelaufen sein und sich doch nur wenige Schritte von der Tür entfernt befinden, durch die er eingetreten war.
Sie betrat die Thronhalle, den Tempel der Zwillingsgötter und den Keller unter den Küchenräumen, und als sie allein war, schaute sie durch jedes der Gucklöcher, die sich an diesen Orten befanden, aber sie sah nichts als dichte, kalte Dunkelheit. Als es Nacht wurde, eine bitterkalte, sternenklare Nacht, ging sie zu bestimmten Stellen am Hügel und hob gewisse Steine hoch, kratzte die Erde weg und spähte hinunter, aber auch hier sah sie nur sternenlose, unterirdische Dunkelheit.
Er war dort unten. Er mußte dort unten sein. Und doch war er ihr entwichen. Er würde vor Durst umkommen, bevor sie ihn fände. Sie müßte Manan hinunter ins Labyrinth schicken, wenn sie sicher war, daß er nicht mehr lebte. Es war unerträglich, daran zu denken. Als sie im Sternenlicht am eiskalten Hügel kniete, stiegen ihr Tränen des Zornes in die Augen.
Sie folgte dem Pfad, der den Hügel hinunter zum Tempel des Gottkönigs führte. Die vom Rauhreif bedeckten Säulen mit den geschnitzten Kapitellen schimmerten weiß im Licht der Sterne. Sie sahen aus wie Säulen aus Knochen. Sie klopfte an die Hintertür, und Kossil ließ sie eintreten.
»Was führt meine Herrin hierher?« fragte die beleibte Frau, den kalten, lauernden Blick auf Arha gerichtet.
»Priesterin, im Labyrinth befindet sich ein Mann.«
Kossil stand wie vom Schlag gerührt; diese Nachricht kam unerwartet, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie stand da und starrte Arha an. Ihre Augen schienen hervorzuquellen. Sie sah in diesem Augenblick so aus, wie Penthe sie nachgeahmt hatte, und Arha mußte ihren ganzen Willen aufwenden, um nicht in schallendes Lachen auszubrechen.
»Ein Mann? Im Labyrinth?«
»Ein Mann, ein Fremder.« Dann, als Kossil sie weiterhin sprachlos und ungläubig anstarrte, fügte sie hinzu: »Ich weiß, wie Männer aussehen, obwohl ich nur wenige gesehen habe.«
Kossil überhörte die Ironie. »Wie gelangt ein Mann hierher?«
»Durch Hexerei, vermute ich. Seine Haut ist dunkel, vielleicht kommt er aus den Innenländern. Er kam, um die Gräber auszurauben. Ich habe ihn zuerst im Untergrab gefunden, unterhalb der Grabsteine. Er rannte zum Eingang des Labyrinths, als er meiner gewahr wurde, so als ob er sich dort unten auskenne. Ich schloß die eiserne Tür hinter ihm. Er versuchte, sie mit Magie zu öffnen, aber die Tür blieb verschlossen. Am Morgen ging er weiter ins Labyrinth hinein. Jetzt kann ich ihn nicht mehr finden.«
»Hat er ein Licht?«
»Ja.«
»Wasser?«
»Eine kleine Flasche nur, nicht voll.«
»Seine Kerze ist längst niedergebrannt«, überlegte Kossil. »Vier bis fünf Tage, vielleicht sechs. Dann sollen meine Wärter hinuntergehen und den Leichnam herausholen. Das Blut sollte dem Thron geopfert werden und die …«
»Nein«, unterbrach Arha sie mit erregter, schriller Stimme. »Ich möchte ihn lebendig festnehmen.«
Die Priesterin blickte von ihrer gewichtigen Höhe herunter auf das Mädchen. »Warum?«
»Um … um sein Sterben hinauszuzögern. Er hat sich gegen die Namenlosen vergangen. Er hat das Untergrab durch Licht entweiht. Er kam, um die Schätze aus den Gräbern zu stehlen. Er muß mit einer härteren Strafe belegt werden, als nur damit, sich in einem Gang niederlegen und sterben zu dürfen.«
»Ja«, sagte Kossil und tat, als
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