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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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zu erbeben. Die Wände rundeten sich nach außen. Der ganze riesige, schadhafte Bau aus Stein und Mörtel änderte seine Form, wie Lehm unter fließendem Wasser, und mit einem mächtigen, lauten Stöhnen und einem Prasseln von Splittern rutschte er zur Seite und sank in sich zusammen. Staub wallte auf. Der Boden des Tales kräuselte sich und begann zu zucken; wie eine Welle lief das Beben den Hügel hinauf, und ein großer Spalt öffnete sich zwischen den Grabsteinen, ein riesenhaftes Maul der darunter liegenden Finsternis, aus dem Staub wie träger grauer Rauch aufquoll. Die noch stehenden Steine fielen hinein und wurden verschlungen. Mit einem furchtbaren Krachen, dessen Echo der Himmel selbst zurückzuwerfen schien, schlossen sich die unförmigen schwarzen Lippen, und der Spalt wurde zusammengedrückt. Die Hügel erzitterten noch einmal und kamen dann zur Ruhe.
    Sie wandte den Blick von dem grauenhaften Erdbeben ab zum Gesicht des Mannes an ihrer Seite, das sie noch nie im Tageslicht gesehen hatte. »Du hast es zurückgehalten.« Ihre Stimme klang dünn, wie ein Wind im Ried, nach diesem mächtigen Brüllen und Stöhnen der Erde. »Du hast das Erdbeben, den Zorn der Dunklen Mächte, zurückgehalten.«
    »Wir müssen weitergehen«, sagte er und wandte sich vom Sonnenaufgang und den Ruinen der Stätte ab. »Ich bin müde, mir ist kalt …« Er strauchelte vor Erschöpfung, als sie weitergingen, doch sie hielt ihn am Arm fest. Keiner von ihnen konnte mehr schnell gehen, beide schleppten sie sich dahin. Langsam, wie zwei kleine Spinnen, quälten sie sich den langen, hohen Hang des Berges hinauf, bis sie oben auf dem trockenen Boden des Gipfels standen, der hellgelb aufschimmerte im Licht der aufgehenden Sonne, gestreift von langen, spärlichen Schatten des Salbeis. Vor ihnen erhoben sich die Berge des Westens, deren Flanken sich noch in violette Schatten hüllten, während die oberen Hänge bereits im goldenen Licht erglänzten. Die beiden hielten kurz inne, dann schritten sie über den Kamm des Hügels und verschwanden aus dem Blickfeld der Stätte.

Die Berge im Westen
    TENAR ERWACHTE AUS SCHWEREN TRÄUMEN, die sie an dunkle Orte geführt hatten, auf Pfade, die sie so lange beschritten hatte, daß ihr Fleisch von den Knochen gefallen war und sie Elle und Speiche ihres Unterarms schwach in der Dunkelheit ausmachen konnte. Sie öffnete die Augen ins goldene Licht des Tages und sog den herben Duft des Salbeis ein. Glückseligkeit erfüllte sie, ein Wonnegefühl durchrieselte ihren Körper, und sie setzte sich auf, streckte die Arme, die in den schwarzen Ärmeln ihres Umhangs steckten, und blickte mit hellem Vergnügen um sich.
    Es war Abend. Die Sonne war schon hinter den Bergen versunken, die nahe im Westen aufragten, aber ihr Schein ergoß sich noch über Himmel und Erde, über einen hohen, klaren, winterlichen Himmel, über ein weites, leeres, goldenes Land, unterbrochen von Bergen und breiten Tälern. Der Wind hatte sich gelegt. Es war kalt und ganz still. Nichts bewegte sich. Die Blätter des Salbeis neben ihr waren grau und trocken, die Stengel von verdorrten, winzigen Wüstenkräutern stachen ihre Hand. Die schweigende, allumfassende Lichterpracht erfaßte jeden Zweig, jedes dürre Blatt an seinem Stengel, spielte auf den Hügeln, in der Luft.
    Sie blickte nach links und sah den Mann fest schlafend auf dem Boden neben sich liegen, in seinen Umhang gewickelt und mit einem Arm unter dem Kopf. Sein Gesicht sah selbst im Schlaf streng, beinahe düster aus, doch seine linke Hand lag entspannt neben einer kleinen Distel, die noch einen grauen, dünnen Mantel aus leichtem Flaum und die schützenden, winzigen Stacheln trug. Der Mann und die kleine Wüstendistel; die Distel und der schlafende Mann …
    Die Macht des Mannes war so groß wie die der Urmächte, ja sie war ihnen sogar verwandt. Er sprach mit Drachen und hielt mit seinem Wort das Erdbeben im Zaum. Und hier lag er schlafend auf dem Boden, und eine kleine Distel wuchs neben seiner Hand. Es war alles sehr merkwürdig. Das Leben hier auf der Erde war etwas viel Größeres, viel Seltsameres, als sie es sich je hätte träumen lassen. Die Lichterpracht aus dem Himmel berührte kurz sein staubiges Haar und ließ die Distel golden aufleuchten.
    Dann erlosch das Licht langsam. Die Kälte verschärfte sich. Tenar stand auf und begann trockenen Salbei und Reisig zu sammeln. Sie brach dürre Äste ab, die klein, aber für ihre Verhältnisse genauso knorrig und stark

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