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Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 2 - Die Gräber von Atuan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Totengeruch der riesigen Höhle unter ihnen. Als der Gang höher wurde und sie aufrecht gehen konnte, verlangsamte sie ihre Schritte und zählte jeden einzelnen bis zum Schacht. Behende, jeder ihrer Bewegungen nachspürend, folgte er ihr auf dem Fuße. Als sie anhielt, blieb auch er sofort stehen.
    »Hier ist der Schacht«, flüsterte sie. »Ich kann den Sims nicht finden. Nein, hier. Sei vorsichtig, die Steine bröckeln ab … Nein, nein warte – er ist locker …« Sie schob sich seitwärts wieder zurück, als die Steine unter ihren Füßen loszubrechen begannen. Der Mann ergriff sie beim Arm und hielt sie fest. Ihr Herz schlug heftig. »Der Sims ist nicht mehr fest, die Steine haben sich gelockert.«
    »Ich werde etwas Licht machen und sie mir anschauen. Vielleicht kann ich sie mit dem richtigen Wort festigen. Hab keine Furcht, Kleines!«
    Sie dachte daran, wie seltsam es war, daß er sie beim gleichen Namen nannte, bei dem Manan sie stets gerufen hatte. Als er ein schwaches Lichtlein am Ende seines Stabes hervorgebracht hatte, wie das Glühen faulenden Holzes oder wie ein Stern im Nebel, und auf den schmalen Sims neben dem schwarzen Abgrund trat, sah sie eine unförmige, dunkle Gestalt sich drohend im Schatten der anderen Seite erheben und erkannte Manan. Die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken wie in einer Schlinge, und sie konnte nicht aufschreien.
    Als Manan die Hand ausstreckte, um ihn von dem unsicheren Sims in den Schacht hinunterzustoßen, blickte Ged hoch und sah ihn. Mit einem Schrei, Überraschung oder Wut, riß er den Stab hoch und hieb auf ihn ein. Dabei war das Licht hell und durchdringend aufgeglüht und schien grell ins Gesicht des Eunuchen. Manan riß seine Hand hoch, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, sprang voller Verzweiflung auf Ged zu, verfehlte ihn und stürzte in den Abgrund.
    Er gab keinen Laut von sich, als er fiel. Kein Laut drang aus dem schwarzen Schacht empor, kein Laut eines aufschlagenden Körpers war vernehmbar, kein Laut des Todes, nichts. Ged und Tenar, vor Entsetzen erstarrt, knieten gefährlich nahe am Rand und horchten hinunter. Nichts war zu hören, alles blieb still.
    Das Licht war nur noch ein grauer Fleck, kaum wahrnehmbar.
    »Komm!« sagte Ged und streckte die Hand aus; sie ergriff sie, und mit drei großen, gewagten Schritten war sie auf der anderen Seite. Er löschte das Licht. Sie ging wieder voraus und führte. Sie konnte nichts fühlen, nichts denken. Nur nach einer Weile begann sie zu überlegen: Muß ich rechts oder links gehen?
    Sie blieb stehen.
    Ein paar Schritte hinter ihr stehend, fragte er leise: »Was ist los?«
    »Ich habe den Weg verloren. Mach Licht!«
    »Verloren?«
    »Ich habe … ich habe mich bei den Abzweigungen verzählt.«
    »Ich habe mitgezählt«, sagte er und kam etwas näher. »Links nach dem Schacht, dann rechts, dann wieder rechts.«
    »Dann wieder rechts beim nächsten«, vervollständigte sie wie in Trance, bewegte sich aber nicht. »Mach Licht!«
    »Das Licht wird uns nicht den Weg weisen, Tenar!«
    »Nichts wird uns den Weg weisen. Alles ist verloren. Wir sind verloren.«
    Die tote Stille erwürgte ihr Flüstern, verzehrte es.
    Sie spürte die Bewegung und Wärme des Mannes, der nahe bei ihr war in der Dunkelheit. Er suchte ihre Hand und hielt sie fest. »Geh weiter, Tenar, den nächsten Gang rechts.«
    »Mach ein Licht!« flehte sie. »Die Gänge sind so verschlungen …«
    »Ich kann nicht, ich habe keine Kraft übrig, Tenar. Sie sind … sie wissen, daß wir die Schatzkammer verlassen haben, daß wir am Schacht vorbei sind. Sie suchen uns, suchen unseren Willen, unseren Geist, damit sie ihn auslöschen, verschlingen können. Den muß ich wach halten, und meine ganze Macht richtet sich darauf. Ich muß ihnen widerstehen, mit dir, mit deiner Hilfe. Wir müssen weitergehen.«
    »Kein Weg führt hinaus«, sagte sie, aber sie machte einen Schritt vorwärts. Dann einen weiteren, zögernd, als ob sich unter jedem Schritt das schwarze, hohle Nichts auftäte, die Leere unter der Erde. Seine warme, feste Hand hielt die ihre umschlossen. Sie ging weiter.
    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Treppe erreichten. Die Stufen schienen steiler zu sein als zuvor, sie waren wie glitschige Kerben im Fels. Aber sie kletterte hinauf und ging dann etwas schneller, denn sie wußte, daß der gewundene Gang sich nach der Treppe begradigte und höher ausgehauen war als die Abzweigungen. Ihre Finger, die sich an der linken Wand entlang

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