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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Sind wir denn Kinder?«
    »Ja! Vor dem, was ich im Stein von Scheließ sehe, bin ich ein Kind – ein furchtsames Kind. Gebieten Sie dem Wesen des Steines. Muß ich Sie anflehen?«
    »Nein«, sagte der große Meister, aber seine Stirn war gefurcht, und er wandte sich von dem älteren Mann ab. Dann streckte er die Arme weit aus in der Großen Geste, mit der die Formeln seiner Kunst beginnen; er hob den Kopf und sprach die Worte der Invokation. Während er feierlich sprach, begann ein Licht im Stein zu leuchten. Das Zimmer verdunkelte sich, Schatten drängten sich näher. Als die Schatten tief waren und der Stein ganz hell, nahm er den Stein in beide Hände, hob ihn vors Gesicht und blickte tief in den leuchtenden Kristall.
    Er schwieg eine Weile, dann begann er zu reden: »Ich sehe die Brunnen von Scheließ«, beschrieb er leise, »die Becken, die Schalen, die Wasserspiele, die silbernen Vorhänge vor den Spalten, wo Farne im Moos wachsen; ich sehe den gewellten Sand, über den die plätschernden Wasser sich ergießen, das Wasser, das aus der tiefen Erde dringt, das Geheimnis, die Unschuld des Ursprungs, die Quellen …« Er verstummte und blieb lange stehen, ohne sich zu rühren; sein Gesicht war bleich, es sah silbern aus im Schein des Kristalls. Dann schrie er heiser auf, und, den Kristall achtlos fallen lassend, stürzte er auf die Knie und barg das Gesicht in Händen.
    Die Schatten waren verschwunden. Das Sonnenlicht strömte in den mit Geräten angefüllten Raum. Der große Bergkristall, der zu Boden gepoltert war, lag unbeschädigt im Staub und Abfall unter einem Tisch.
    Der Meister des Gebietens streckte die Hand suchend aus, wie ein Kind griff er nach der Hand des andern. Er atmete schwer. Endlich stand er auf und lehnte sich ein wenig an den Meister der Verwandlungen. Mit noch zitternden Lippen versuchte er zu lächeln: »Meister, vor Ihren Herausforderungen muß man sich hüten!«
    »Was haben Sie gesehen, Thorion?«
    »Ich habe die Brunnen gesehen. Ich habe gesehen, wie sie versunken sind, und wie die Flüsse austrockneten. Ich habe gesehen, wie die Lippen der Quellränder sich geöffnet haben, und darunter war alles schwarz und trocken. Sie haben das Meer vor der Schöpfung gesehen, ich habe gesehen, was danach – nach dem Ende kommt.« Seine Lippen waren trocken. »Ich wünschte, der Erzmagier wäre hier.«
    »Ich wünschte, wir könnten jetzt bei ihm sein.«
    »Wo? Niemand kann ihn jetzt finden.« Der Meister des Gebietens blickte auf und schaute durch das Fenster in einen blauen, heiteren Himmel. »Kein Senden, kein Gebieten kann ihn jetzt erreichen. Er ist dort, wo Sie das Meer gesehen haben, auf dem sich nichts befand. Er kommt an den Ort, wo die Quellen versiegen. Er ist dort, wo unsere Künste nichts ausrichten … Doch vielleicht gibt es selbst jetzt noch Formeln, die ihm nützen können, vielleicht welche aus der Zauberkunde von Paln.«
    »Das sind doch Formeln, die Tote wieder ins Leben rufen.«
    »Und manche bringen die Lebenden ins Reich der Toten.«
    »Sie glauben nicht, daß er tot ist?«
    »Ich glaube, er geht dem Tod entgegen und wird von ihm angezogen. Wir alle werden davon angezogen. Unsere Macht verläßt uns, unsere Stärke, unsere Hoffnung, unser Glück fliehen uns. Die Quellen versiegen.«
    Der Meister der Verwandlungen blickte ihn sorgenvoll an. »Versuchen Sie nicht, nach ihm zu senden, Thorion«, sagte er schließlich. »Er wußte, was er suchte, lange bevor wir es wußten. Ihm ist die Welt wie der Kristall von Scheließ: er schaut und sieht, was getan werden muß … Wir können ihm nicht helfen. Die Großen Formeln sind alle gefährdet, und besonders die aus der Zauberkunde, die Sie erwähnt haben. Wir müssen hier standhalten und uns um Rok kümmern. Wir müssen die Namen bewahren.«
    »Gewiß«, sagte der Meister des Gebietens, »doch ich muß gehen und darüber nachdenken.« Er verließ in steifem Gang das Turmzimmer und trug seinen dunklen, edel geformten Kopf hoch.
    Am nächsten Morgen suchte ihn der Meister der Verwandlungen auf. Als er keine Antwort auf sein Klopfen vernahm, öffnete er die Tür und fand ihn ausgestreckt auf dem Steinboden liegen, so als hätte ihn ein schwerer Wurf zurückgeschleudert. Seine Arme waren weit ausgestreckt, wie zu einer Invokationsgeste, doch seine Hände faßten sich kalt an, und seine Augen blickten starr. Obwohl der Verwandler neben ihm kniete und ihn mit der Macht des Magiers zurückrief, indem der seinen Namen Thorion dreimal

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