Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Schatten und Träume vernimmst du die Stimme, die zu dir spricht: Komm! Ich aber bin alt und habe getan, was ich tun mußte, ich steh im Licht des Tages und sehe meinem eigenen Tod entgegen, dem Ende aller Möglichkeiten. Ich weiß mir nur eine Macht, die zu besitzen wert ist: die Macht, nicht zu nehmen, sondern zu empfangen.«
Jessetsch lag schon weit hinter ihnen, ein blauer Strich am Horizont, ein Fleck.
»Dann bin ich sein Diener«, sagte Arren.
»Das bist du. Und ich bin deiner.«
»Aber wer ist es denn? Was ist es?«
»Ich glaube, es ist ein Mensch – so wie du und ich.«
»Dieser Mann, von dem Sie einst sprachen – der Zauberer von Havnor, der die Toten heraufbeschworen hat, ist es der?«
»Das kann gut sein. Er besaß große Macht, und sie war ausschließlich darauf gerichtet, dem Tod zu entgehen. Und er kannte die Großen Formeln, die in der Zauberkunde von Paln enthalten sind. Ich war jung und dumm, als ich in diesem Buch las und eine der Formeln benutzte. Ich habe mir selbst Unheil damit zugezogen. Sieh dir die Narben an. Doch wenn ein alter und mächtiger Mann sie benutzt und keine Rücksicht auf die Folgen nimmt, dann kann er uns alle ins Verderben stürzen.«
»Wurde Ihnen nicht gesagt, daß dieser Mann tot sei?«
»Doch«, sagte Sperber, »das wurde mir gesagt.«
Sie sprachen nicht mehr weiter darüber.
In dieser Nacht glomm das Meer wie von einem Feuer durchleuchtet. Die scharfen Wellen, vom Bug der Weitblick zurückgeworfen, und die Bewegungen jedes Fisches unter der Wasserfläche waren klar umrissen und lebendig im Licht. Arrens Arm lag auf der Ruderbank, und er ließ den Kopf darauf ruhen, während er die silbernen Wirbel und Strudel betrachtete. Er tauchte seine Hand in das Wasser und hob sie hoch, und ein sanftes Licht glitt von seinen Fingern herab. »Schauen Sie her«, sagte er, »ich bin auch ein Zauberer!«
»Diese Gabe hast du nicht«, sagte sein Gefährte.
»Und ohne sie«, erwiderte Arren und blickte in das ruhelose Glitzern der Wellen, »bin ich ja wirklich keine große Hilfe, wenn wir auf unseren Feind treffen.«
Schon von Anfang an hatte er heimlich gehofft, der Erzmagier habe gerade ihn und keinen anderen auf diese Reise mitgenommen, weil eine Kraft in ihm schlummerte, die von seinem Vorfahren Morred auf ihn gekommen war und sich in der äußersten Not, in der dunkelsten Stunde offenbaren würde: Dann könnte er sich selbst, seinen Gebieter und die ganze Welt von diesem Feind befreien. Aber in letzter Zeit schien ihm diese Hoffnung oft in weiter Ferne zu liegen; und er erinnerte sich an Tage seiner Kindheit, an denen er den brennenden Wunsch hatte, die Krone seines Vaters aufzuprobieren, und geweint hatte, als es ihm untersagt wurde. Die Hoffnung jetzt war genauso kindisch, genauso unreif. Er besaß keine Macht, taugte nicht zur Magie. Er würde diese Gabe auch nie besitzen.
Wahrscheinlich war freilich, daß einmal die Zeit kommen würde, da er die Krone seines Vaters aufsetzen und als Prinz von Enlad regieren mußte. Doch das schien ihm jetzt nichts Besonderes mehr zu sein, seine Heimat kam ihm klein vor und lag in weiter Ferne. Das war keine Treulosigkeit. Seine Treue war sogar gewachsen, nur richtete sie sich jetzt auf etwas viel Größeres, auf eine viel umfassendere Aufgabe. Er hatte seine eigene Schwäche erkannt und gelernt, seine Stärke an ihr zu messen. Jetzt wußte er, daß er stark war. Doch was nützte ihm diese Stärke, wenn er keine magischen Gaben besaß und seinem Gebieter nichts anbieten konnte als gewöhnliche Dienste und seine unverbrüchliche Liebe? Dort, wohin sie gehen mußten, würde das dort genügen?
Sperber hatte gesagt: »Um das Licht einer Kerze zu sehen, muß man sie an einen dunklen Ort tragen.« Damit versuchte sich Arren zu trösten, aber er fand den Gedanken nicht sehr trostreich.
Als sie am anderen Morgen erwachten, waren Luft und Wasser grau. Über dem Mast hellte sich der Himmel zur sanften Bläue eines Opals auf, denn der Nebel hing tief. Den Männern aus dem Norden, zu denen Arren von Enlad und Sperber von Gont gehörten, war der Nebel vertraut; sie hießen ihn willkommen wie einen alten Freund. Sachte umhüllte er das Boot, so daß sie nicht weit blicken konnten, und es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einem vertrauten Raum nach Wochen in einer leeren, erbarmungslosen Helle in einem unablässig blasenden Wind. Sie kehrten in ihre gewohnten Breiten zurück und befanden sich jetzt ungefähr auf der Höhe von Rok.
Etwa
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