Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
alt gewesen, ein kleiner, glatzköpfiger und kalter Mann. Arren hatte ihn jahrelang nicht ausstehen können, obgleich er in seiner Kunst als einer der Besten galt. Doch eines Tages, während einer Übung, hatte er den Meister in einer ungeschützten Stellung überrascht und fast entwaffnet, und der ungläubige, ungewohnte Ausdruck der Freude auf den strengen Zügen, die Überraschung, das Staunen, endlich einen ebenbürtigen Kämpfer gefunden zu haben – nie hatte er diesen Ausdruck vergessen können. Und von diesem Tag an hatte der alte Mann erbarmungslos Arrens Kampfgeist gefordert, und immer lag das gleiche Lächeln auf seinem Gesicht und hellte sich auf, je mehr Arren auf ihn eindrang. Und jetzt lag es auf Sperbers Gesicht, leuchtend wie Stahl im Licht der Sonne.
    »Warum sollst du dir keine Unsterblichkeit wünschen? Wie kannst du es vermeiden? Jede Seele strebt danach, und ihre Größe liegt in der Stärke dieses Strebens. – Doch hab acht, du gehörst zu denen, deren Wunsch in Erfüllung gehen könnte.«
    »Und dann?«
    »Dann könnte ein falscher König an die Macht kommen, und die Kunst der Menschen wäre vergessen, die Sänger verstummten, und die Augen erblindeten. Und hier! Schau dich um! Sieh dir die Verheerung an, das Elend des Landes, die Wunde, die wir heilen wollen. Zwei sind es, Arren, die ein Ganzes formen: die Welt und der Schatten, die Helligkeit und das Dunkle. Das sind die beiden Schalen der Waage. Jedes Leben trägt den Keim des Todes, der Tod aber den Keim allen Lebens in sich. Diese beiden Pole ziehen einander an, sie bringen sich gegenseitig hervor und werden ewig wiedergeboren. Und alles folgt ihnen, die Blüte des Apfelbaums, das Licht der Sterne. Im Leben liegt der Tod beschlossen und im Tod die Wiedergeburt. Ein Leben ohne Tod, wie sähe das aus? Ein sich nie veränderndes, ewig dauerndes Leben? – Ist das nicht ein schrecklicher Tod – ein Tod, dem keine Wiedergeburt folgt?«
    »Wenn soviel davon abhängt, wenn ein Menschenleben schon das Gleichgewicht des Ganzen stören kann, dann ist es doch sicherlich … ich meine, dann würde doch nicht zugelassen werden …« Er stockte, verwirrt.
    »Wer läßt zu? Wer verbietet?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich auch nicht. Aber ich weiß, wieviel Böses ein Mensch anrichten kann. Ich weiß es nur zu gut, denn ich habe es selbst getan. Ich habe die gleiche böse Tat im Taumel meines Stolzes begangen. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, nur einen Spalt breit, einen ganz winzigen Spalt, nur um zu zeigen, daß ich stärker als der Tod selbst sei … Ich war jung und war dem Tod – wie du – noch nie begegnet … Es bedurfte der ganzen Macht des Erzmagiers Nemmerle, seiner ganzen Kunst und seines Lebens, um die Tür wieder zu schließen. Du siehst die Narben, die diese Nacht allein auf meinem Gesicht hinterlassen hat, doch ihn kostet es das Leben. O ja, wir vermögen die Tür zwischen der Helligkeit und dem Dunkel zu öffnen, Arren! Es bedarf der Stärke, kann aber vollbracht werden. Doch sie wieder zu schließen, das, Arren, ist eine ganz andere Sache.«
    »Aber das, von dem Sie sprechen, ist doch gewißlich ganz verschieden von dem hier …«
    »Warum? Weil ich ein guter Mensch bin?« Die Stimme war wieder hart und kalt, das Auge des Falken blickte ihn durchdringend an. »Was heißt das, ein guter Mensch zu sein, Arren? Ist der gut, der nie etwas Böses täte, nie die Tür zur Finsternis aufstieße, der kein Dunkel in sich trägt? Denk nach und schau etwas tiefer, Junge! Was du lernst, wirst du dort brauchen, wohin wir gehen müssen. Schau in dich selbst! Hast du nicht eine Stimme vernommen, die ›Komm!‹ gesagt hat? Bist du ihr nicht gefolgt?«
    »Doch. Ich – ich habe es nicht vergessen. Aber ich dachte … ich dachte, daß es … daß es seine Stimme war.«
    »Gewiß, es war seine Stimme, aber es war auch deine Stimme. Wie anders hätte er über die Meere zu dir sprechen können, als in deiner eigenen Stimme? Wie kommt es, daß er die, die gelernt haben zu hören – die Magier, die Künstler, die Suchenden – ruft, und daß die seiner Stimme folgen? Wie kommt es, daß er mich nicht zu sich ruft? Weil er weiß, daß ich nicht hören will. Ich will diese Stimme nicht vernehmen. Du, Arren, du bist, wie ich, zur Macht geboren, zur Macht über andere Menschen, über andere Seelen. Ist das nicht das gleiche wie Macht über Leben und Tod? Du bist noch jung, du stehst an der Schwelle der Möglichkeiten, und im Land der

Weitere Kostenlose Bücher