Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
sechshundert Meilen weit östlich von der nebligen See, auf der die Weitblick dahinsegelte, beschien die Sonne die Baumkronen im Immanenten Hain, die grünen Gipfel des Rokkogels und das spitze Schieferdach des Großhauses.
In einem Zimmer im Südturm, dem Arbeitsraum eines Magiers, in dem sich Retorten, Glaskolben und dickbauchige Flaschen, teils mit geradem, teils mit schiefem Hals befanden, in dem gemauerte Öfen standen und winzige Zangen, Scheren, Blasebälge, Ständer, Rohre, eine Unzahl von Schachteln, Reagenzgläser und verpfropfte Flaschen, teils in Hardisch oder geheimnisvollen Runen markiert, herumlagen und -standen, in dem es alles gab, was zur Alchimie, Glasbläserei, Metallschmelze und Heilkunst gehörte, in diesem Raum, zwischen den mit allem Möglichen angehäuften Tischen und Bänken, standen der Meister der Verwandlungen und der Meister des Gebietens von Rok.
Der Meister der Verwandlungen hielt einen Edelstein in den Händen, der wie ein ungeschliffener Diamant aussah. Es war ein Felskristall, der ganz tief im Innern amethystfarben und rosa schimmerte, doch sonst die Klarheit reinsten Wassers aufwies. Doch wenn das Auge sich in dieser Klarheit verlor, stieß es auf eine Trübung, die weder Widerspiegelung noch Bild der sie umgebenden Wirklichkeit war, sondern nur aus Flächen und Tiefen bestand und immer weiter in eine Traumwelt hineinführte, die den Betrachter immer fester umklammerte. Dies war der Stein von Scheließ. Lange schon hatte er zum Schatz der Prinzen von Weg gehört, manchmal war ihm nicht mehr Bedeutung als jedem anderen Schmuckstück zugewiesen worden, manchmal hatte er als Schlafmittel gedient, doch manchmal erfüllte er einen grausamen Dienst: der Unerfahrene, der zu lange in die Tiefe des Kristalls blickte, wurde wahnsinnig. Der Erzmagier Genscher von Weg hatte den Kristall mitgebracht, als er nach Rok kam, denn in den Händen eines Magiers enthüllte der Stein die Wahrheit.
Doch die Wahrheit ist von Mensch zu Mensch verschieden.
Und so beschrieb der Meister der Verwandlungen, der den Stein in Händen hielt und durch die ungleichmäßig geformte Oberfläche in die endlose, schimmernde, zart getönte Tiefe blickte, laut das Bild, das er sah: »Ich sehe die Erde vor mir ausgebreitet, so als ob ich auf dem Berge Onn am Nabel der Welt stünde, und mein Auge erschaut alles, was mir zu Füßen liegt, selbst die fernste Insel im fernsten Bereich und was jenseits liegt. Alles ist deutlich. Ich sehe Schiffe auf den Meeresstraßen von Ilien und die Herdfeuer auf Torheven und das Dach des Turmes, in dem wir uns befinden. Doch hinter Rok ist alles leer. Im Süden – nichts, im Westen – nichts, Wathort ist nicht dort, wo es sein soll, und auch die andern Inseln im Westen fehlen, selbst Pendor, die nächstliegende, ist nicht sichtbar. Und wo sind Osskil und Ebosskil? Enlad ist vom Nebel verdeckt, ein schmutziges Grau liegt wie Spinnweben auf der Insel. Immer mehr Inseln fehlen, leer ist das Meer, so muß es ausgesehen haben vor der Schöpfung …«, seine Stimme brach, als er das letzte Wort aussprach, er mußte sich zwingen, es über die Lippen zu bringen.
Er legte den Stein vorsichtig auf den Standfuß aus Elfenbein und trat zurück. Sein gütiges Gesicht wirkte erschöpft. Er sagte: »Beschreiben Sie mir, was Sie sehen!«
Der Meister des Gebietens hob den Stein auf und drehte ihn langsam herum, als suche er auf der unebenen Oberfläche den Eingang zu einer Vision. Lange drehte er ihn hin und her, und sein Gesicht war angespannt. Endlich legte er ihn zurück und sagte: »Verwandler, ich sehe wenig. Fragmente, Fetzen, nichts, was sich zu einem Ganzen schließt.«
Der grauhaarige Meister ballte die Hände zu Fäusten: »Ist das nicht schon an sich erschreckend?«
»Wieso?«
»Sind Ihre Augen denn öfters blind?« rief der Verwandler, und Zorn lag in seiner Stimme. »Sehen Sie nicht ein, daß sich …«, und er stammelte ein paarmal, bevor er weiterreden konnte, »sehen Sie nicht, daß sich eine Hand über Ihre Augen gelegt hat, so wie sich eine Hand auf meinen Mund gelegt hat?«
Der Meister des Gebietens sagte: »Sie sind überanstrengt, Meister.«
»Gebieten Sie dem Wesen des Steines, zu erscheinen!« sagte der Meister der Verwandlungen, nachdem er sich gesammelt hatte, doch seine Stimme klang erstickt.
»Warum?«
»Warum? Weil ich Sie darum bitte.«
»Hören Sie auf, Meister! Wollen Sie mich etwa herausfordern – sollen wir uns zanken wie Knaben vor der Höhle des Bären?
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