Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
wiederholte, bewegte er sich nicht. Er war nicht tot, trotzdem wohnte kaum noch Leben in ihm, gerade genug, um sein Herz schlagen zu lassen und etwas Luft in seine Lungen zu bringen. Der Meister des Verwandelns griff nach seinen Händen und hielt sie fest, dann flüsterte er: »Oh, Thorion, ich habe dich gezwungen, in den Kristall zu blicken. Das hier ist meine Schuld!« Dann stand er hastig auf, eilte hinaus auf die Galerie und warnte jeden, den er traf, Meister und Schüler: »Der Feind ist in unserer Mitte, in das gutgeschützte Rok ist er gedrungen und hat unsere Macht an der Wurzel angegriffen.« Sonst ein sanfter Mann, sah er jetzt so kalt und fremd aus, daß jeder, der ihn sah, von Furcht ergriffen wurde. »Schaut euch den Meister des Gebietens an!« sagte er. »Wer wird ihn zurückrufen können, wenn just er, der Meister dieser Kunst, von uns gegangen ist?«
Er ging auf sein Zimmer, und alle traten zurück, um ihn vorbeizulassen.
Man ließ den Meister der Heilkunde kommen. Er ordnete an, daß Thorian zu Bett gelegt und warm zugedeckt werde, aber er braute keinen Kräutertee und sang keinen der Gesänge, die einem kranken Körper oder einem gestörten Geist halfen.
Einer seiner Schüler war bei ihm, ein junger Bursche, der noch nicht den Zaubergrad erworben hatte, aber in der Heilkunde hochbegabt war. Er fragte: »Meister, kann man denn nichts für ihn tun?«
»Nicht auf dieser Seite der Mauer«, sagte der Meister. Dann, sich besinnend, zu wem er sprach, fügte er hinzu: »Er ist nicht krank, mein Junge, doch selbst wenn er ein Fieber oder eine Krankheit hätte, ich weiß nicht, ob unsere Kunst ihm groß helfen könnte. Mir scheint, als ob unsere Kräuter in letzter Zeit an Würze verloren hätten, und obwohl ich die Worte unserer Formeln spreche wie eh und je, kommt es mir doch vor, als wirkten sie nicht mehr so stark.«
»Etwas Ähnliches sagte Meister Sänger gestern. Er unterbrach sich mitten in dem Lied, das er uns gerade beigebrachte. ›Ich weiß nicht mehr, was das Lied bedeutet‹, murmelte er verstört und ging dann aus dem Zimmer. Einige der Jungen haben gelacht, aber mir war’s nicht danach, mir war’s, als würde der Boden unter mir versinken.«
Der Meister der Heilkunde schaute in das offene, kluge Gesicht des Jungen und dann hinunter auf das starre Gesicht des Gebieters. »Er wird zurückkommen«, sagte er. »Die Lieder sollen nicht vergessen werden.«
In dieser Nacht verließ der Meister der Verwandlungen Rok. Niemand sah ihn fortgehen. Das Fenster seines Zimmers, das auf den Garten hinausging, stand offen. Er blieb verschwunden. Man nahm an, er habe seine eigene Kunst dazu gebraucht, sich zu verwandeln, vielleicht in irgendeinen Vogel oder ein anderes Tier, gar in Nebel oder Wind, denn alle Daseinsformen, alle Substanzen lagen im Bereich seiner Verwandlungskunst. Und so war er entflohen, vielleicht um den Erzmagier zu suchen. Von den Magiern und Schülern wußten manche um die Gefahr, die droht, wenn jemand in seiner eigenen Verwandlung gefangen wird. Das kann geschehen, wenn die Macht nachläßt oder der Wille erlahmt. Sie fürchteten um ihn, doch sie sprachen nicht über diese Furcht.
So kam es, daß drei Meister im Konzil der Weisen fehlten. Während die Tage vergingen und keine Nachricht vom Erzmagier sie erreichte, der Meister des Gebietens weiterhin wie tot auf seinem Bett lag und der Meister der Verwandlungen verschwunden blieb, breiteten sich Kälte und Bedrückung im Großhaus von Rok aus. Die Jungen flüsterten untereinander, und manche redeten davon, Rok zu verlassen, denn der Unterricht litt, und sie lernten nicht viel. »Vielleicht«, so meinte einer, »war alles, diese ganzen geheimen Künste und Mächte, von Anfang nichts als Lüge und Täuschung. Von den Meistern übt nur noch Meister Hand seine Kunst aus, und jeder weiß ja, daß das nichts weiter ist als Spielerei und Illusion! Und die anderen verstecken sich und weigern sich, etwas zu tun, weil die Geheimnisse ihrer Künste jetzt offengelegt sind.« Und ein anderer schloß sich ihm an: »Was ist Zauberei denn schon groß? Die ganze Magierkunst ist doch nichts weiter als Schein. Hat sie denn schon jemals einen Menschen vom Tod errettet oder ihm ein langes Leben verliehen? Besäßen die Magier wirklich die Macht, derer sie sich rühmen, dann würden sie doch alle ewig leben!« Und er und die anderen Jungen begannen, vom Sterben der großen Magier zu erzählen, wie Morred im Kampf gefallen war, wie Nereger vom Grauen
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