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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Traumgebilde an, bis ein Vogel, der von Westen her über das Meer flog, ihre Aufmerksamkeit erregte. Er war keine Möwe, denn er flog gleichmäßig, und für einen Pelikan flog er zu hoch. War es eine Wildgans oder ein Albatros, der große seltene Wanderer des offenen Meers, der zwischen die Inseln geraten war? Sie beobachtete die langsamen Flügelschläge, hoch und weit draußen, in der blendenden Luft. Dann erhob sie sich, zog sich ein wenig vom Rand des Felsen zurück und wartete regungslos; ihr Herz schlug schnell, und der Atem stockte ihr, während sie den geschmeidigen, eisendunklen, von langen feuerroten Flügeln aus Flughäuten getragenen Körper, die ausgestreckten Klauen, die Rauchfäden beobachtete, die sich hinter ihm in der Luft auflösten.
    Er flog geradewegs nach Gont, geradewegs zum Oberfell, geradewegs zu ihr. Sie sah das Glitzern der rostigschwarzen Schuppen und das Leuchten des großen Auges. Sie sah die rote Zunge, die eine Flammenzunge war. Der Gestank von Verbranntem haftete dem Wind an, als der Drache zischend brüllte und abbog, um auf der Felsplatte zu landen, und einen Feuerhauch ausatmete.
    Seine Füße prallten auf den Felsen. Der stachlige, peitschende Schwanz rasselte, und die Flügel, scharlachrot an den Stellen, wo die Sonne hindurchschien, rauschten und raschelten, während sie sich über den gepanzerten Flanken falteten. Der Kopf drehte sich langsam. Der Drache sah die Frau an, die in Reichweite der sensenscharfen Klauen stand. Die Frau sah den Drachen an. Sie spürte die Hitze seines Körpers.
    Man hatte ihr gesagt, daß ein Mensch einem Drachen nicht in die Augen sehen dürfe, aber das kümmerte sie nicht. Die weit auseinanderstehenden gelben Augen unter gepanzerten Schalen oberhalb der schmalen Nase und der glühenden, rauchenden Nasenlöcher sahen sie unverwandt an. Ihr kleines weiches Gesicht und ihre dunklen Augen sahen ihn unverwandt an.
    Keiner sprach.
    Der Drache wendete den Kopf ein wenig zur Seite, damit sie nicht vernichtet wurde, als er ein lautes »Ha!« aus orangefarbenen Flammen sprach – oder vielleicht lachte.
    Dann senkte er den Körper, hockte sich hin und sprach, aber nicht zu ihr.
    »Ahivaraihe, Ged«, sagte er, sehr sanft, rauchig, die brennende Zunge flackerte auf; er senkte den Kopf.
    Jetzt erblickte Tenar zum erstemal den Mann, der auf dem Rücken des Drachen saß. Er saß in der Kerbe zwischen zwei der hohen Schwertstacheln, die sich hintereinander auf dem Rückgrat des Drachen emporreckten: dicht hinter dem Hals und oberhalb der Schultern, wo die Flügel wurzelten. Die Hände umklammerten den rostdunklen Panzer auf dem Hals des Drachen, und der Kopf lehnte an der Wurzel des Schwertstachels, als schliefe er.
    »Ahi eheraihe, Ged!« sagte der Drache ein wenig lauter; das breite Maul schien ständig zu lächeln, zeigte die Zähne, die gelblich und so lang wie Tenars Unterarm waren und scharfe weiße Spitzen hatten.
    Der Mann rührte sich nicht.
    Der Drache wendete den langen Kopf und sah Tenar wieder an.
    »Sobriost«, flüsterte er, als glitte Stahl über Stahl.
    Dieses Wort aus der Sprache des Erschaffens kannte sie. Ogion hatte sie alle Worte dieser Sprache gelehrt, die sie lernen wollte. Steh auf, sagte der Drache, sitz auf! Sie sah die Stufen zum Aufsitzen. Der Fuß mit den Klauen, der abgewinkelte Ellbogen, das Schultergelenk, der erste Muskel des Flügels: vier Stufen.
    Auch sie sagte »Ha!«, aber nicht lachend, sondern nur um wieder zu dem Atem zu kommen, der ihr im Hals steckengeblieben war; sie senkte für einen Augenblick den Kopf, um die lähmende Schwäche zu überwinden. Dann trat sie vor, an den Klauen, dem lippenlosen breiten Maul und dem großen gelben Auge vorbei, und bestieg die Schulter des Drachen. Sie ergriff den Arm des Mannes. Er bewegte sich nicht, aber er war bestimmt nicht tot, denn der Drache hatte ihn hierhergebracht und zu ihm gesprochen. »Komm jetzt«, sagte sie und erblickte sein Gesicht, als sie den verkrampften Griff seiner linken Hand löste. »Komm schon, Ged. Komm …«
    Er hob ein wenig den Kopf. Seine Augen waren offen, sahen aber nichts. Sie mußte um ihn herumklettern, zerkratzte sich an der heißen gepanzerten Haut des Drachen die Beine und löste die rechte Hand des Mannes von einer hornigen Verdickung an der Wurzel des Schwertstachels. Sie brachte ihn dazu, daß er ihre Arme ergriff, und halb trug, halb zog sie ihn die vier seltsamen Stufen zur Erde hinunter.
    Er ermannte sich soweit, daß er sich an ihr

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