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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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festzuhalten versuchte, aber er hatte keine Kraft. Er fiel wie ein abgeladener Sack vom Drachen auf den Felsen und blieb dort liegen.
    Der Drache wendete den riesigen Kopf, roch und schnüffelte mit einer rein tierischen Geste am Körper des Mannes herum.
    Er hob den Kopf, und auch die Flügel hoben sich leicht mit ungeheurem metallischem Geräusch. Er schob die Füße von Ged weg und näher zum Rand des Felsens hin. Er wandte den Kopf auf dem stachligen Hals nach hinten, sah Tenar noch einmal unverwandt an, und seine Stimme sprach wie das trockene Dröhnen eines Brennofen-Feuers: »Thesse Kalessin.«
    Der Wind vom Meer pfiff in den halbgeöffneten Flügeln des Drachen.
    »Thesse Tenar«, antwortete die Frau mit klarer, zitternder Stimme.
    Der Drache blickte weg, nach Westen, über das Meer. Er krümmte den langen Körper unter dem Geklirr und Geklapper von Eisenschuppen, breitete dann plötzlich die Flügel aus, duckte sich und sprang unvermittelt vom Felsen in den Wind hinein. Der nachgeschleppte Schwanz zog Kerben in den Stein. Die roten Flügel schlugen nach unten, hoben sich, schlugen nach unten, und Kalessin war schon weit vom Land entfernt, flog geradeaus, flog nach Westen.
    Tenar sah ihm nach, bis er nicht mehr größer war als eine Wildgans oder eine Möwe. Die Luft war kalt. Solange der Drache dagewesen war, hatte sie sich durch das innere Feuer des Drachen heiß, hochofenheiß gefühlt. Tenar erschauerte. Sie setzte sich neben Ged auf den Felsen und begann zu weinen. Sie verbarg das Gesicht in den Armen und weinte laut. »Was kann ich tun?« rief sie. »Was kann ich nur tun?«
    Dann wischte sie sich Augen und Nase am Ärmel ab, schob die Haare mit beiden Händen zurück und wandte sich dem Mann zu, der neben ihr lag. Er lag so ruhig, so lässig auf dem nackten Felsen, als bliebe er für immer hier liegen.
    Tenar seufzte. Sie konnte nichts tun, aber es gab immer ein Nächstliegendes, das zu tun war.
    Sie konnte ihn nicht tragen. Sie mußte Hilfe holen. Das bedeutete, daß er alleinbleiben würde. Ihr schien, daß er zu nahe am Rand des Felsen lag. Wenn er aufzustehen versuchte, würde er womöglich stürzen, weil ihm elend und schwindlig war. Wie konnte sie ihn von hier wegbringen? Wenn sie sprach und ihn berührte, regte er sich überhaupt nicht. Sie packte ihn unter den Achseln und versuchte ihn wegzuziehen, und zu ihrer Überraschung gelang es ihr; obwohl er eine leblose Masse war, hatte er nicht viel Gewicht. Sie zog ihn entschlossen einige Meter weiter zum Land hin, vom nackten Fels auf einen Fleck Erde, wo trockene Grasbüschel den Anschein von Schutz erweckten. Dort mußte sie ihn liegenlassen. Sie vermochte kaum zu gehen, denn die Beine zitterten ihr, und ihr Atem wurde noch immer von Schluchzern unterbrochen. Sie lief so schnell wie möglich zu Ogions Haus und rief, während sie näher kam, nach Heide, Tantchen Moor und Therru.
    Das Kind kam hinter dem Melkschuppen hervor und blieb stehen, wie es seine Art war; es gehorchte Tenars Ruf, kam aber nicht näher, um sie zu begrüßen oder um begrüßt zu werden.
    »Therru, lauf ins Dorf und hol Hilfe – jemanden mit Kraft. Auf dem Felsen liegt ein verletzter Mann.«
    Therru blieb stehen. Sie war noch nie allein ins Dorf gegangen. Sie erstarrte zwischen Gehorsam und Angst. Tenar merkte es und fragte: »Ist Tantchen Moor da? Ist Heide da? Wir drei können ihn gemeinsam tragen. Nur rasch, rasch, Therru!« Sie hatte das Gefühl, daß Ged bestimmt sterben würde, wenn sie ihn ungeschützt dort liegen ließ. Wenn sie zurückkäme, wäre er fort – tot, abgestürzt, von Drachen geholt. Alles mögliche konnte geschehen. Sie mußte sich beeilen, bevor es geschah. Flint hatte auf dem Feld der Schlag getroffen, und sie war nicht bei ihm gewesen. Er war allein gestorben. Der Hirte hatte ihn beim Tor gefunden. Ogion war gestorben, und sie hatte ihn nicht vor dem Tod bewahren können, sie konnte ihm keinen Atem einhauchen. Ged war nach Hause gekommen, um zu sterben, und das war das Ende von allem, es blieb nichts übrig, sie konnte nichts tun, aber sie mußte etwas tun. »Rasch, Therru! Hol jemanden!«
    Tenar machte sich selbst zittrig auf den Weg zum Dorf, erblickte aber die alte Moor, die über die Weide geeilt kam und mit ihrem dicken Weißdornstock daherstapfte. »Hast du mich gerufen, Schätzchen?«
    Tantchen Moors Anwesenheit verschaffte Tenar sofort Erleichterung. Sie bekam wieder Luft und konnte denken. Tantchen Moor vergeudete keine Zeit mit Fragen, und

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