Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
»Vielleicht liegt er im Sterben. Ich weiß es nicht. Wenn Ogion …«
Bei dem Gedanken an Ogion weinte sie wieder, dachte daran, daß Ged zu spät nach Hause gekommen war. Sie schluckte die Tränen hinunter und trat zur Holzkiste, um ihr Späne für das Feuer zu entnehmen. Sie gab Therru den Kessel, damit sie ihn fülle, und berührte ihr Gesicht, während sie mit ihr sprach. Die wulstigen, dicken Narben fühlten sich heiß an, aber das Kind hatte kein Fieber. Tenar kniete nieder, um Feuer zu machen. Jemand in diesem prächtigen Haushalt – eine Hexe, eine Witwe, ein Krüppel, und eine geistig Zurückgebliebene – mußte tun, was getan werden mußte, und durfte das Kind nicht mit Weinen erschrecken. Aber der Drache war fort – und sollte nun nichts mehr kommen als der Tod?
Besserung
ER LAG WIE TOT DA , aber er war nicht tot. Wo war er gewesen? Was hatte er durchgemacht? In dieser Nacht zog ihm Tenar im Feuerschein die schmutzigen, abgetragenen, schweißsteifen Kleidungsstücke aus. Sie wusch ihn und ließ ihn nackt zwischen dem Leinenlaken und der Decke aus weicher schwerer Ziegenwolle liegen. Er war zwar klein und von leichtem Körperbau, aber doch untersetzt und kräftig gewesen; jetzt war er so mager, als wäre er bis auf die Knochen abgenützt, fadenscheinig und zerbrechlich. Sogar die Narben auf der Schulter und der linken Seite des Gesichts von der Schläfe bis zum Kinn wirkten schwächer, silbrig. Und das Haar war grau.
Ich habe genug vom Trauern, dachte Tenar. Genug vom Trauern, genug vom Kummer. Ich will nicht um ihn trauern. Schließlich ist er auf dem Drachen zu mir geritten.
Einst wollte ich ihn töten, dachte sie. Wenn es mir möglich ist, werde ich dafür sorgen, daß er lebt. Sie sah ihn an; in ihrem Blick lag Herausforderung, aber kein Mitleid.
»Wer von uns hat den anderen aus dem Labyrinth gerettet, Ged?«
Er hörte nicht, rührte sich nicht, schlief. Sie war sehr müde. Sie badete in dem Wasser, das sie erhitzt hatte, um ihn damit zu waschen, und kroch neben die kleine, warme, seidige Stille, die schlafende Therru, ins Bett. Sie schlief, und ihr Schlaf dehnte sich zu einem großen windigen Raum, voll rosafarbenem und goldenem Dunst. Sie flog. Ihre Stimme rief: »Kalessin!« Eine Stimme antwortete, die aus den Tiefen des Lichts rief.
Als sie erwachte, zwitscherten die Vögel auf den Feldern und auf dem Dach. Sie setzte sich auf und erblickte durch das knorrige Glas des nach Westen gehenden niedrigen Fensters das Licht des Morgens. In ihr war etwas Neues, ein Same oder ein Schimmer, zu klein, als daß man ihn ansah oder an ihn dachte. Therru schlief noch. Tenar saß neben ihr, blickte durch das kleine Fenster auf Wolken und Sonnenlicht, dachte an ihre Tochter Mala, versuchte sich Mala als Säugling vorzustellen. Nur ein schwacher Eindruck, der verschwand, als sie sich ihm zuwandte – der kleine dicke Körper, der vor Lachen bebte, das dünne fliegende Haar … Und das zweite Kind, Funke hatten sie es im Scherz genannt, weil es ein Stück von Flint war. Sie kannte seinen wahren Namen nicht. Er war als Kind genauso kränklich gewesen, wie Mala gesund war. Er war zu früh zur Welt gekommen und sehr klein, war mit zwei Monaten beinahe an Diphtherie gestorben, und in den drauffolgenden zwei Jahren war es vorgekommen, als zöge sie einen aus dem Nest gefallenen Spatzen auf; man wußte nie, ob er am nächsten Morgen noch leben würde. Aber er hielt durch, der kleine Funke erlosch nicht. Er wuchs heran und wurde ein drahtiger Junge, immer in Bewegung, getrieben; auf dem Hof nicht zu gebrauchen; keine Geduld mit Tieren, Pflanzen, Menschen; er gebrauchte Worte nur für seine Bedürfnisse, nie zur Freude und zum Geben und Empfangen von Liebe und Wissen.
Mala war dreizehn und Funke elf, als Ogion auf seinen Wanderungen vorbeikam. Damals hatte Ogion Mala in den Quellen von Kaheda am Ende des Tals ihren Namen gegeben; sie war schön durch das grüne Wasser geschritten, die Kind-Frau, und er hatte ihr ihren wahren Namen, Hayohe, gegeben. Er war für einige Tage auf dem Eichenhof geblieben und hatte den Jungen gefragt, ob er ein wenig mit ihm durch den Wald wandern wolle. Funke schüttelte nur den Kopf. »Was tätest du, wenn du könntest?« hatte ihn der Magier gefragt, und der Junge antwortete, was er Vater oder Mutter nie hatte sagen können: »Zur See fahren.«
Deshalb heuerte er drei Jahre später, nachdem Bucher ihm seinen wahren Namen gegeben hatte, als Matrose auf einem Handelsschiff an, das
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