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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Kopf. »Nein, du.«
    »Ach so«, sagte Tenar. Dann fuhr sie fort: »Der Pfirsichbaum, den du gepflanzt hast, braucht Wasser, um zu wachsen. Einmal täglich, bis der Regen kommt.«
    Therru stand auf und lief um die Ecke des Hauses zum Brunnen. Ihre Beine und Füße waren unverletzt und vollkommen. Tenar sah gern, wie sie ging oder lief, die dunklen, staubigen, hübschen kleinen Füße auf der Erde. Sie kam mit Ogions Gießkanne zurück, mühte sich mit ihr ab und schüttete eine kleine Flut über den frisch gepflanzten Kern.
    »Du erinnerst dich also an die Geschichte aus der Zeit, als Menschen und Drachen eins waren … Sie berichtet, wie die Menschen hierherkamen, nach Osten, die Drachen aber auf den fernen Westlichen Inseln blieben. Weit, weit weg von hier.«
    Therru nickte. Sie schien nicht achtzugeben, aber als Tenar ›die Westlichen Inseln‹ sagte und auf das Meer hinaus zeigte, wandte Therru das Gesicht dem hohen hellen Horizont zu, den sie zwischen den an Stöcken festgebundenen Bohnen und dem Melkschuppen erblickte.
    Auf dem Dach des Melkschuppens erschien eine Ziege und stellte sich mit edel erhobenem Kopf im Profil zu ihnen auf; sie hielt sich offensichtlich für eine Bergziege.
    »Sippy ist wieder entwischt«, stellte Tenar fest.
    Therru ahmte Heides Ziegenruf nach und machte »Hesssss! Hesssss!« Heide erschien neben dem Zaun, der das Bohnenbeet umgab, und rief »Hesssss!« zu der Ziege hinauf; die kümmerte sich nicht um sie, sondern blickte nachdenklich zu den Bohnen hinunter.
    Tenar überließ die drei dem Einfangspiel. Sie wanderte an dem Bohnenbeet vorbei zur Kante des Felsens und an ihr entlang. Ogions Haus stand abseits vom Dorf und dem Rand des Oberfell näher als jedes andere Haus. Der Oberfell war hier ein steiler, grasbewachsener, von Felsbändern und -vorsprüngen durchzogener Hang, auf dem Ziegen weiden konnten. Wenn man nach Norden ging, wurde der Hang immer steiler, bis er senkrecht abfiel; auf dem Weg drang der Felsen immer wieder an die Oberfläche, bis sich etwa eine Meile nördlich des Dorfs der Oberfell zu einer Felsplatte aus rötlichem Sandstein verengte, die über dem Meer hing, das sechshundert Meter weiter unten den Fuß des Felsens unterhöhlte.
    An diesem Ende des Oberfell wuchsen nur Flechten, Hauswurzen und hie und da ein windverkrüppeltes Engelsauge, wie ein Knopf, der auf den rauhen, brüchigen Stein gefallen war. Im Landesinnern erhob sich oberhalb eines schmalen Heidestreifens nördlich und östlich des Felsen die gewaltige dunkle Flanke des Berges Gont. Der Felsen ragte so hoch über die Bucht empor, daß man hinunterblicken mußte, um ihr äußeres Ufer und die verschwommenen Niederungen von Essary zu erkennen. Jenseits davon erstreckte sich im Süden und Westen nur der Himmel über dem Meer.
    In den Jahren, da Tenar in Re Albi gelebt hatte, war sie gern hierherkommen. Ogion hatte den Wald geliebt, aber sie – die in einer Wüste gelebt hatte, in der die einzigen Bäume im Umkreis von hundert Meilen ein Obstgarten mit knorrigen Pfirsich- und Apfelbäumen gewesen war, der in den endlosen Sommern von Hand bewässert wurde, in der nichts grün, feucht und mühelos wuchs, in der es nur einen Berg, eine große Ebene und den Himmel gab –, sie mochte den Rand des Felsen mehr als den Wald, der ihn einschloß. Sie mochte es, wenn sie überhaupt nichts über dem Kopf hatte.
    Die Flechten, die grauen Hauswurzen, die stengellosen Gänseblümchen mochte sie ebenfalls; sie waren ihr vertraut. Sie setzte sich nicht weit vom Rand auf den abfallenden Felsen und blickte auf das Meer hinaus, wie sie es früher getan hatte. Die Sonne war heiß, aber der ständig wehende Wind kühlte ihr den Schweiß auf dem Gesicht und den Armen. Sie stützte sich auf die Hände, lehnte sich zurück und dachte an nichts; Sonne, Wind, Himmel und Meer erfüllten sie, machten sie für Sonne, Wind, Himmel, Meer durchsichtig. Doch ihre linke Hand erinnerte sie daran, daß sie lebte, und sie sah sich um, um festzustellen, was sie am Handballen kratzte. Es war eine winzige Distel, die sich in einen Spalt im Sandstein duckte, die farblosen Dornen kaum in das Licht und in den Wind hob. Sie nickte steif, als der Wind blies, widerstand ihm, war im Fels verwurzelt. Tenar betrachtete sie lange.
    Als sie wieder auf das Meer hinaussah, erblickte sie in dem blauen Dunst, wo Meer und Himmel zusammentrafen, den Strich einer Insel: Oranéa, die östlichste der Inneren Inseln.
    Sie starrte verträumt das verschwommene

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