Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
als sie hörte, daß dort oben ein Verletzter lag, der geholt werden mußte, nahm sie den schweren Matratzenüberzug aus Segeltuch, den Tenar zum Lüften aufgehängt hatte, und trug ihn ans Ende des Oberfell. Sie und Tenar betteten Ged auf das Tuch und schleppten diese Trage mühsam nach Hause, als Heide, gefolgt von Therru und Sippy, herbeigelaufen kam. Heide war jung und stark, und mit ihrer Hilfe konnten sie das Segeltuch heben wie eine Bahre und den Mann ins Haus schaffen.
Tenar und Therru schliefen in der Nische in der Westwand des einzigen langen Raums. Am anderen Ende stand nur Ogions Bett, das jetzt mit einem schweren Leinenlaken bedeckt war. Dorthin legten sie Ged. Tenar breitete Ogions Decke über ihn, während Tantchen Moor Zaubersprüche murmelte und Heide und Therru nur dastanden und ihn anstarrten.
»Laßt ihn jetzt in Ruhe«, befahl Tenar und führte alle in den vorderen Teil des Hauses.
»Wer ist das?« fragte Heide.
»Was wollte er auf dem Oberfell?« fragte die alte Moor.
»Du kennst ihn, Tantchen. Er war einmal Ogions – Aihals Lehrling.«
Die Hexe schüttelte den Kopf. »Das war der Junge aus Zehnellern, Schätzchen«, widersprach sie. »Der ist heute Oberster Magier in Rok.«
Tenar nickte.
»Nein, Schätzchen«, widersprach Tantchen Moor. »Der da sieht so aus wie er. Aber er ist es nicht. Dieser Mann ist kein Magier. Nicht einmal ein Zauberer.«
Heide sah vergnügt von einer zur anderen. Sie verstand meist nicht, was die Menschen sagten, aber sie hörte gern, wie sie es redeten.
»Aber ich kenne ihn, Tantchen Moor. Es ist der Sperber.« Als sie den Namen aussprach, Geds Gebrauchsnamen, setzte sie eine Zärtlichkeit in sich frei, und zum erstenmal dachte und fühlte sie, daß er es tatsächlich war und daß die Jahre, seit sie ihn kennengelernt hatte, eine Bindung darstellten. Sie sah ein Licht wie einen Stern in der Dunkelheit, unter der Erde, vor langer Zeit, und sein Gesicht im Licht. »Ich kenne ihn, Tantchen Moor.« Sie lächelte, und dann wurde ihr Lächeln breiter. »Er ist der erste Mann, den ich jemals sah.«
Die Hexe murmelte etwas und bewegte sich unruhig. Sie widersprach ›Mistress Goha‹ ungern, aber sie war keineswegs überzeugt. »Es gibt Tricks, Verkleidungen, Veränderungen, Gestaltwechsel«, meinte sie. »Sei lieber vorsichtig, Schätzchen. Wie gelangte er dorthin, wo du ihn gefunden hast, dort draußen? Hat ihn jemand gesehen, als er durchs Dorf kam?«
»Hat keine von euch – gesehen …?«
Sie starrten sie an. Sie versuchte, ›den Drachen‹, zu sagen und konnte es nicht. Lippen und Zunge wollten das Wort nicht bilden. Aber ein Wort bildete sich mit ihrer Hilfe, schuf sich selbst mit ihrem Mund und Atem. »Kalessin«, sagte sie.
Therru starrte sie an. Eine Welle von Wärme, Hitze, schien von dem Kind auszugehen, als hätte es Fieber. Sie sprach nicht, bewegte jedoch die Lippen, als wiederhole sie den Namen, und die Fieberhitze brannte um sie herum.
»Tricks«, wiederholte die Hexe. »Jetzt, da unser Magier fort ist, werden alle möglichen Gauner vorbeikommen.«
»Ich bin mit Sperber in einem offenen Boot von Atuan nach Havnor und von Havnor nach Gont gekommen«, erklärte Tenar trocken. »Du hast ihn gesehen, als er mich hierherbrachte, Tantchen Moor. Er war damals nicht Oberster Magier. Aber er war der gleiche, der gleiche Mann. Gibt es weitere solche Narben wie die seinen?«
Bei diesem Hinweis wurde die alte Frau still, sammelte sich. Sie blickte zu Therru hinüber. »Nein«, gab sie zu. »Aber …«
»Glaubst du, ich würde ihn nicht erkennen?«
Die Hexe verzog den Mund, runzelte die Stirn, rieb die Daumen gegeneinander, betrachtete ihre Hände. »Es gibt Böses auf der Welt, Mistress«, mahnte sie. »Böses, das die Gestalt und den Körper eines Mannes annimmt, aber seine Seele ist fort – verzehrt …«
»Das Gebbeth?«
Die Hexe wand sich, als das Wort offen ausgesprochen wurde. Sie nickte. »Es heißt, daß der Magier Sperber vor langer Zeit hierherkam, bevor du mit ihm kamst. Und ein Wesen der Dunkelheit kam mit ihm – folgte ihm. Vielleicht ist es noch immer da. Vielleicht …«
»Der Drache, der ihn herbrachte«, unterbrach Tenar sie, »nannte ihn bei seinem wirklichen Namen. Und ich kenne diesen Namen.« Zorn über das beharrliche Mißtrauen der Hexe schwang in ihrer Stimme mit.
Die Alte verstummte. Ihr Schweigen war eine bessere Entgegnung als Worte.
»Vielleicht ist der Schatten, der auf ihm liegt, sein Tod«, sagte Tenar.
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