Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
eingeweichten Binsen zwischen sich und eine Matte vor sich, auf die sie die gespaltenen Binsen legten, »woher weißt du, ob jemand ein Zauberer ist oder nicht?«
    Tantchen Moors Antwort war weitschweifig und begann mit den üblichen Denksprüchen und dunklen Phrasen. »Das Tiefe kennt die Tiefe«, erklärte sie rätselhaft. »Was geboren ist, wird sprechen.« Und sie erzählte eine Geschichte von der Ameise, die ein winziges Haar vom Boden eines Palastes aufhob und damit in den Ameisenhaufen lief, und in der Nacht leuchtete der Haufen im Boden wie ein Stern, denn das Haar stammte von dem Kopf des großen Magiers Brost. Aber nur der Weise konnte den leuchtenden Ameisenhaufen sehen. Für gewöhnliche Augen war er vollkommen dunkel.
    »Man braucht also eine Ausbildung«, stellte Tenar fest.
    Vielleicht, vielleicht auch nicht, war der Kern von Tantchen Moors dunkler Antwort. »Manche werden mit der Gabe geboren« behauptete sie. »Auch wenn sie es nicht wissen, ist sie vorhanden. Und sie wird leuchten wie das Haar des Magiers im Erdboden.«
    »Ja«, stimmte Tenar zu, »das habe ich gesehen.« Sie spaltete säuberlich eine Binse, spaltete sie noch einmal und legte die Teile auf die Matte. »Woher weißt du dann, wann ein Mensch kein Zauberer ist?«
    »Sie ist nicht da«, erklärte die Hexe, »sie ist nicht da, Schätzchen. Die Macht. Sieh doch. Wenn ich Augen im Kopf habe, kann ich sehen, daß du Augen hast, nicht wahr? Und wenn du blind bist, sehe ich es. Und wenn du nur ein Auge hast wie die Kleine oder wenn du drei hast, sehe ich sie, nicht wahr? Doch wenn ich kein Auge habe, mit dem ich sehe, werde ich es erst wissen, wenn du es mir erzählst. Aber ich habe es. Ich sehe, ich weiß. Das dritte Auge!« Sie berührte ihre Stirn und stieß ein lautes trockenes Kichern aus, wie eine Henne, die triumphierend verkündet, daß sie ein Ei gelegt hat. Sie freute sich, weil sie die Worte gefunden hatte, mit denen sie ausdrücken konnte, was sie sagen wollte. Tenar war allmählich klargeworden, daß ein großer Teil der dunklen Äußerungen und des Singsangs der Hexe nur die Unfähigkeit war, mit Worten und Gedanken umzugehen. Niemand hatte sie jemals gelehrt, logisch zu denken. Niemand hatte ihr jemals zugehört, wenn sie etwas sagte. Alles, was man von ihr erwartete, was man von ihr wollte, waren Unklarheit, Mysterium, Gemurmel. Sie war eine Hexe. Sie hatte nichts mit klaren Äußerungen zu tun.
    »Ich verstehe«, sagte Tenar. »Also – vielleicht ist das eine Frage, die du nicht beantworten willst –, also wenn du jemanden mit deinem dritten Auge, mit deiner Macht ansiehst, dann siehst du seine Macht – oder du siehst sie nicht?«
    »Es ist mehr ein Wissen«, erläuterte Tantchen Moor. »Sehen ist nur eine Art, es auszudrücken. Es ist nicht so, wie ich dich sehe, wie ich diese Binse sehe, wie ich den Berg dort drüben sehe. Es ist ein Wissen. Ich weiß, was in dir, aber nicht in der armen hohlköpfigen Heide vorhanden ist. Ich weiß, was in dem lieben Kind ist, aber nicht in dem, der dort drinnen liegt. Ich weiß …« Sie wußte nicht weiter, murmelte und spuckte. »Jede Hexe, die nur eine Haarnadel wert ist, weiß, ob die andere eine Hexe ist!« erklärte sie schließlich offen, ungeduldig.
    »Ihr erkennt einander.«
    Die Alte nickte. »Ja, so ist es. Das ist das Wort. Erkennen.«
    »Und ein Zauberer würde deine Macht erkennen, würde dich als Zauberin erkennen …«
    Doch die Hexe grinste sie an, die schwarze Höhle eines Grinsens in einem Spinnennetz aus Falten.
    »Du meinst einen Mann, Schätzchen, einen Zauberer? Was hat ein Mann der Macht mit uns zu tun?«
    »Aber Ogion …«
    »Ogion war gütig«, erklärte Tantchen Moor ohne Ironie.
    Sie spalteten die Binsen eine Zeitlang schweigend.
    »Schneid dir an ihnen nicht den Daumen auf, Schätzchen«, mahnte die Hexe.
    »Ogion hat mich unterrichtet. Als wäre ich kein Mädchen. Als wäre ich sein Lehrling, so wie Sperber. Er lehrte mich die Sprache des Erschaffens, Tantchen. Was immer ich ihn fragte, er erzählte es mir.«
    »Es gab keinen zweiten wie ihn.«
    »Ich war es, die nicht unterrichtet werden wollte. Ich verließ ihn. Was sollte ich mit seinen Büchern anfangen? Was nützten sie mir? Ich wollte leben, ich wollte einen Mann, ich wollte meine Kinder, ich wollte mein Leben.«
    Sie spaltete die Binsen schnell und säuberlich mit dem Nagel.
    »Und ich habe es bekommen«, fügte sie hinzu.
    »Nimm mit der rechten Hand, wirf mit der linken weg«, meinte die Hexe.

Weitere Kostenlose Bücher