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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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verwendet. »Kastrierte Männer«, erklärte sie.
    Die Hexe starrte sie an, zischte »Tsech!« und machte das Zeichen, um Böses abzuwehren. Sie saugte an den Lippen. Sie war aus ihrer Verstimmung gerissen worden.
    »Einer von ihnen bedeutete für mich fast so viel wie eine Mutter … Aber verstehst du, Tantchen, ich habe erst einen Mann gesehen, als ich eine erwachsene Frau war. Bis dahin nur Mädchen und Frauen. Und dennoch wußte ich nicht, was Frauen sind, weil alle Menschen, die ich kannte, Frauen waren. Wie Männer, die unter Männern leben, Matrosen, Soldaten, Magier auf Rok – wissen sie, was Männer sind? Wie können sie es wissen, wenn sie nie mit einer Frau sprechen?«
    »Halten sie sie fest, und verfahren sie mit ihnen wie mit Widdern und Ziegenböcken«, fragte die Hexe, »einfach so, mit einem Kastriermesser?«
    Das Entsetzen, das Makabre und ein Schimmer von Vergeltung hatten über Zorn und Vernunft gesiegt. Die Alte wollte bei einem einzigen Thema bleiben, dem der Eunuchen.
    Tenar konnte ihr nicht viel erzählen. Ihr wurde klar, daß sie nie darüber nachgedacht hatte. Als sie eines der Mädchen in Atuan gewesen war, hatte es kastrierte Männer gegeben; einer von ihnen hatte sie zärtlich geliebt – und sie ihn; sie hatte ihn getötet, um ihm zu entrinnen. Dann war sie auf den Archipel gekommen, wo es keine Eunuchen gab, und hatte sie vergessen, hatte sie zusammen mit Manans Leiche in der Dunkelheit versenkt.
    Sie versuchte, Tantchen Moors Gier nach Einzelheiten zu befriedigen. »Wahrscheinlich nahmen sie kleine Jungen und …« Aber sie unterbrach sich. Ihre Hände hörten auf zu arbeiten.
    »Wie Therru«, sagte sie nach einer langen Pause. »Wozu ist ein Kind da? Wozu ist es da? Um benützt zu werden. Um vergewaltigt, um kastriert zu werden … Hör zu, Tantchen. Als ich an den dunklen Orten lebte, taten sie dort ebendas. Und als ich hierherkam, dachte ich, ich sei in das Licht hinausgetreten. Ich lernte die wahren Worte. Ich hatte meinen Mann, ich gebar meine Kinder, ich hatte ein gutes Leben. Im hellen Tageslicht. Und im hellen Tageslicht taten sie das – dem Kind an. Auf den Wiesen am Fluß. Der Fluß, der aus der Quelle entspringt, in der Ogion meiner Tochter den Namen gab. Im Sonnenlicht. Ich versuche herauszufinden, wo ich leben kann, Tantchen. Verstehst du, was ich meine? Was ich sagen will?«
    »Nun, nun«, meinte die Ältere. Und nach einer Weile: »Schätzchen, es gibt genügend Elend, ohne daß du es suchst.« Als sie sah, daß Tenars Hände zitterten, während sie eine eigensinnige Binse zu spalten versuchte, sagte sie wieder:
    »Schneid dir an ihnen nicht den Daumen auf, Schätzchen.«
    Ged erwachte erst am nächsten Tag. Tantchen Moor, die sehr geschickt, aber für eine Krankenschwester erschreckend unsauber war, war es geglückt, Fleischsuppe in ihn hineinzulöffeln. »Am Verhungern«, erklärte sie, »und vor Durst ausgetrocknet. Er bekam nicht viel zu essen und zu trinken, wo immer er war.« Nachdem sie ihn noch einmal abgeschätzt hatte, fügte sie hinzu: »Ich glaube, daß er schon zu geschwächt ist. Sie werden schwach, weißt du, und können nicht einmal trinken, obwohl das alles ist, was sie brauchen. Ich habe erlebt, wie ein großer starker Mann so gestorben ist. Innerhalb weniger Tage, zu einem Schatten zusammengeschrumpft, sozusagen.«
    Aber mit ihrer unbarmherzigen Geduld brachte sie ein paar Löffelvoll ihres Gebräus aus Fleisch und Kräutern in ihn hinein. »Wir werden ja sehen«, meinte sie. »Vermutlich zu spät. Er stiehlt sich fort.« Sie sprach ohne Bedauern, vielleicht mit Behagen. Der Mann bedeutete ihr nichts; der Tod war ein Ereignis. Vielleicht konnte sie diesen Magier begraben. Man hatte ihr nicht erlaubt, den alten zu begraben.
    Am nächsten Tag trug Tenar gerade Salbe auf seine Hände auf, als er erwachte. Er war offensichtlich lange auf Kalessins Rücken geritten, denn er hatte die Eisenschuppen so erbittert umklammert, daß sie ihm die Haut von den Handflächen geschunden hatten und die Innenseite der Finger kreuz und quer zerschnitten war. Noch im Schlaf ballte er die Hände, als wollten sie den nichtvorhandenen Drachen festhalten. Sie mußte ihm die Finger sanft öffnen, um die Wunden zu waschen und zu salben. Während sie das tat, schrie er auf, zuckte zusammen und streckte die Hände aus, als hätte er das Gefühl des Fallens. Er öffnete die Augen. Sie sprach leise. Er sah sie an.
    »Tenar«, sagte er, ohne zu lächeln, erkannte sie jenseits

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