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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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»Wer kann das sagen, liebe Mistress? Wer kann das sagen? Daß ich einen Mann wollte, hat mich mehr als einmal in schreckliche Schwierigkeiten gebracht. Aber ich wollte nie heiraten. Nein, nein. Das ist nichts für mich.«
    »Warum nicht?« fragte Tenar.
    Die verblüffte Hexe antwortete einfach: »Welcher Mann würde eine Hexe heiraten?« Und dann, mit einer mahlenden Bewegung des Kiefers, wie ein wiederkäuendes Schaf: »Und welche Hexe würde einen Mann heiraten?«
    Sie spaltete die Binsen.
    »Was stimmt mit den Männern nicht?« erkundigte sich Tenar vorsichtig.
    Tantchen Moor antwortete genauso vorsichtig, mit leiser Stimme: »Ich weiß es nicht, mein Schätzchen. Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe oft darüber nachgedacht. Am besten kann ich es so ausdrücken. Ein Mann steckt in seiner Haut, siehst du, wie eine Nuß in der Schale.« Sie hielt die langen, gekrümmten, nassen Finger in die Höhe, als hielte sie eine Walnuß. »Diese Schale ist hart und stark, und sie ist voll von ihm. Voll von großartigem Mann-Fleisch, Mann-Ich. Das ist alles. Alles, was da ist. Drinnen steckt nur er und sonst nichts.«
    Tenar überlegte eine Weile und fragte schließlich: »Aber wenn er ein Zauberer ist …«
    »Dann ist alles, was drinnen ist, seine Macht. Seine Macht ist er, verstehst du? So verhält es sich mit ihm. Und das ist alles. Wenn seine Macht fort ist, ist er fort. Leer.« Sie zerbrach die unsichtbare Walnuß und warf die Schale weg. »Nichts.«
    »Und eine Frau?«
    »Ja, also, Schätzchen, eine Frau ist etwas ganz anderes. Wer weiß, wo eine Frau beginnt und wo sie aufhört? Höre, Mistress, ich habe Wurzeln, ich habe Wurzeln, die tiefer reichen als diese Insel. Tiefer als das Meer, älter als das Emporsteigen der Landmassen. Ich gehe auf die Dunkelheit zurück.« Die geröteten Augen der Hexe leuchteten seltsam hell, und ihre Stimme sang wie ein Instrument. »Ich gehe auf die Dunkelheit zurück! Ich war vor dem Mond. Niemand weiß, niemand weiß, niemand kann sagen, was ich bin, was eine Frau ist, eine mächtige Frau, die Macht einer Frau, tiefer als die Wurzeln der Bäume, tiefer als die Wurzeln von Inseln, älter als das Erschaffen, älter als der Mond. Wer wagt, dem Dunkel Fragen zu stellen? Wer will das Dunkel nach seinem Namen fragen?«
    Die alte Frau wiegte sich vor und zurück, psalmodierte, war in ihrer Beschwörung aufgegangen; aber Tenar hielt sich gerade und spaltete mit dem Daumennagel eine Binse in die Hälfte.
    »Ich will es«, erklärte sie.
    Sie spaltete die nächste Binse.
    »Ich habe lang genug im Dunkeln gelebt«, fügte sie hinzu.
    Sie schaute von Zeit zu Zeit hinein, um sich zu vergewissern, daß Sperber noch schlief. Auch jetzt tat sie es. Als sie sich wieder zu Tantchen Moor setzte und das Gespräch von vorher nicht wieder aufnehmen wollte, weil die Ältere ein mürrisches, mißmutiges Gesicht machte, sagte sie: »Als ich heute morgen aufwachte, hatte ich, oh, das Gefühl, daß ein neuer Wind weht. Eine Veränderung. Vielleicht nur das Wetter. Hast du es gefühlt?«
    Aber die Alte wollte weder ja noch nein sagen. »Hier am Oberfell wehen viele Winde, manche sind gut, manche schlecht. Manche bringen Wolken, manche Schönwetter, und manche bringen jenen Nachrichten, die es hören können, aber jene, die nicht zuhören, können nicht hören. Woher soll ich es wissen, eine alte Frau ohne Magier-Weisheit, ohne Buch-Weisheit? Mein ganzes Wissen liegt in der Erde, in der dunklen Erde. Unter den Füßen der Stolzen. Unter den Füßen der stolzen Herrscher und Magier. Warum sollten die Gelehrten hinunterblicken? Was weiß eine alte Hexe?«
    Sie wäre eine ernstzunehmende Gegnerin, dachte Tenar, und sie war eine schwierige Freundin.
    Sie griff nach einer Binse. »Ich bin unter Frauen aufgewachsen, Tantchen. Nur Frauen. In dem kargischen Gebiet, weit im Osten, in Atuan. Ich wurde als kleines Kind meiner Familie weggenommen, um an einem Ort in der Wüste zur Priesterin erzogen zu werden. Ich weiß nicht, wie er hieß, wir nannten ihn in unserer Sprache nur den Ort. Der einzige Ort, den ich kannte. Ein paar Männer bewachten ihn, aber sie konnten nicht auf die Innenseite der Mauern gelangen. Und wir konnten nicht außerhalb der Mauern gelangen. Das war nur in einer Gruppe möglich, alle Frauen und Mädchen, mit Eunuchen, die uns bewachten und die Männer außer Sichtweite hielten.«
    »Was sind das für Leute, die du da genannt hast?«
    »Eunuchen?« Tenar hatte gedankenlos das kargische Wort

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